Radikale Bilder 2. Österreichische Triennale zur Fotografie 1996
Angst vor radikalen Bildern?
Jochen Gerz hat einmal von der „künstlerische(n) Produktion von Bildern in einer Gesellschaft des Spektakels“ gesprochen1Sarah Rogendorfer and Florian Rötzer in conversation with Jochen Gerz, in: Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/M. 1991, S. 535. und damit auch auf die deutlich veränderten und mit Folgewirkungen versehenen Dimensionen des Bildumfeldes hingewiesen. Welche Bedingungen muß also ein Bild erfüllen, wenn es in der grellen Vielfalt von Bilderzeugnissen jeder Art wahrgenommen werden will? Die Frage scheint dann so alt zu sein wie die Kunst selbst, wenn man einmal nur die zeitliche Gebundenheit von Kunstwerken im Auge hat. Der aktuell diskutierte Kontext der Kunst, im Superlativ Kontext Kunst, läßt sich nicht erst bei Duccios „Maestà“ als entscheidendes Element der Ästhetik beobachten oder nachweisen.2Hans Belting, „Das Werk im Kontext“, in: Ders. u.a. (Hg.) Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1988, S. 222 – 239. Auch Spektakel haben nicht erst im pompösen Gewand des Barock stattgefunden. Dennoch hat sich das Spektakuläre zunehmend verbreitert und verästelt und ist damit in einem Ausmaß Teil der Kultur geworden, wie es vor unserer Gegenwart nicht einmal denkbar, geschweige denn tagtäglich erfahrbar war.
Das Zeitalter des Spektakels bildet riesige Projektionsschirme aus, auf denen die Bilder in rascher und ungeordneter Reihenfolge Tag und Nacht erscheinen. Art-Direktoren, Zeitungsredakteure, Layouter entscheiden überall auf der Welt in jeder Minute, welche Bilder „wirken“, sich durchsetzen, den Text / die Nachricht nicht nur illustrieren, sondern ihn / sie zur mehr oder weniger ausführlichen Bildunterschrift zurückdrängen. Die Bildarchive der Fotografen und ihrer Agenturen werden ständig erweitert, aktualisiert. Sie sind verläßliche Bildquellen aber auch dann, wenn es um Stereotypen geht: Vom Frühlingsbeginn oder Wintereinbruch bis hin zur „Dramatik“ der Stimmabgabe des Kanzlers produzieren und reproduzieren sie einmal festgelegte und immer wieder eingeforderte Klischees für die Wahrnehmung der Welt.
Von den täglichen Repräsentations- oder Livefotos der Printmedien, diesen scheinbar anspruchslosen, aber autoritären Bilderbüchern der Welt abgesehen, bietet die lnformationsgesellschaft eine große, unterschiedlich strukturierte Auswahl an Bildmenüs an, die den in wenigen Händen befindlichen öffentlichen Raum einerseits in Millionen Fernsehzimmer segmentiert, andererseits die Präsentation in jenem Raum, den wir weiterhin als Gemeinschaftsraum bezeichnen, ob urban, ländlich oder als Transitroute dazwischen, unermeßlich ausdehnt. Man kann, unter Berücksichtigung der eben gemachten Einschränkungen, Vilém Flusser zustimmen, daß „wer zuhause bleibt, Zutritt zu allen kulturellen (und politischen, Anm. d. Verf. ) lnformationen hat, und wer das Haus verläßt, Gefahr läuft, lnformationen zu versäumen“.3 Vilém Flusser, „Fotografie als Kunst im öffentlichen Raum“, in: Fotografie als Kunst im öffentlichen Raum, Ausstellungskatalog, München 1991, S. 14. Da es sich mit immer rascherer Geschwindigkeit um Bildnachrichten handelt, die als Auswahl aus einem nahezu unbegrenzten Produktionsmechanismus übermittelt werden, spielt die Konditionierung sowohl der Sender als auch der Adressaten eine zentrale gesellschaftspolitische Rolle.
lm Zeitalter des immer weiter anwachsenden Bilderspektakels rücken, rasch diagnostiziert, weder Quantität noch Qualität als Parameter direkt ins Zentrum, sondern in erster Linie der Selektionsprozeß, der Wahrnehmung unter diesen Umständen erst ermöglicht. Es wäre grundsätzlich einsichtig, würde man der Qualität eines Bildes aus den millionenfach vorhandenen und nach Verbrauch permanent ergänzten, die Chance zusprechen, sich im selektiven Wahrnehmungsverfahren durchzusetzen. Da dieser Prozeß aber nicht auf dieser linearen Ebene funktioniert, müssen andere Kriterien im Spiel sein. Es ist nicht schwierig, deren Wirkungsmechanismus nachzuvollziehen: Bestätigungen der Erwartungshaltung fördern den reibungslosen Ablauf im Gebrauch von Bildern (an beiden Enden des Übertragungskanals) ebenso wie Projektionsflächen der überzeugenden Repräsentation, des greifbaren Abenteuers und jener Form von Exotik, in der das Fremde als kontrollierbare, wenn auch außer Reichweite liegende, Erfahrungseinheit vermittelt wird. Bilder von Katastrophen zählen nicht erst seit den „Medienkriegen“, wenn auch durch sie die letzten Schranken der Akzeptanz endgültig niedergerissen wurden, zum ebenfalls gewohnten Bildgebrauch.
Es handelt sich nicht um eine ausgeprägte Form von Zynismus in einer in vielen Bereichen unerträglich radikalisierten Welt, einer Ausstellung den Titel „Radikale Bilder“ zu geben. Es wäre ein Mißverständnis, würde man diesen Ansatz als Aufdoppelung bestehender Zustände interpretieren oder einer generellen Radikalisierung der Kunst im Sinne einer Verlagerung politischer Methoden das Wort reden. Zudem: Welche Chancen, welche noch nicht genutzten Möglichkeiten hätte die Kunst, Radikalität auf der Oberfläche der lllustration zu potenzieren und damit politischem Radikalismus Vorschub zu leisten? Sowohl im politischen als auch im gesellschaftlichen und kulturell-zivilisatorischen Bereich sind Tabus. wenn es zu diesem Zeitpunkt noch welche gegeben hat, durch die Pressefotografie. die Satelliten- und Kabelprogramme, die Pornoindustrie, die Unterhaltungsstrategen und die Computerspielmonopolisten längst und eindeutig gebrochen. Bildzeugnisse von Sex und Crime, von radikaler Menschenverachtung, von schamloser Agitation und deren Repräsentation liegen nur in wenigen Beispielen als inkriminiert auf den Tischen der Richter, sie sind durch Aufschlagen von Magazinseiten oder per Fernbedienung und Mouse-Click jederzeit aufrufbar.
Da die Kunst- und Mediengeschichte aber nicht nur affirmative Positionen kennt, ist dann der nicht-affirmative Bildhabitus automatisch radikal? Waren Giotto und Goya, waren Kokoschka und Malewitsch radikale Künstler? Haben sie radikal gedacht und gehandelt? Gibt es von ihnen Zeugnisse radikaler Kunst? Wir neigen dazu, den inhaltlichen Anteil in Bildern rascher und höher zu bewerten. ln diesem Fall gestehen wir „Desastres de la guerra“ oder den frühen multimedialen (vom Plakat bis zum Bühnenstück reichenden) Bildebenen von „Mörder, Hoffnung der Frauen“ gewiß mehr Radikalität zu, als auf den ersten Blick ausschließlich formalen und intellektuellen Entscheidungen, wie sie Giotto oder Malewitsch getroffen haben. Auch der mit bestimmten künstlerischen Formulierungen einhergehende Skandal dient – bis heute – als lndikator für Tabuverletzungen und Radikalität. Die methodische Entscheidung, die konzeptive Setzung von Zeichen als Ausdruck einer über die Kunst transportierten Weltsicht entziehen sich eher dem gesellschaftlichen Scherbengericht, und sei es nur durch Desinteresse bzw. das Abschieben in den Elfenbeinturm der Kunst, in den Kreis der lnsider, auch dann, wenn eine solche Kunst grundsätzlich auf eine erweiterte gesellschaftliche Kapazität gerichtet ist, das heißt den Blick, nicht nur den des Künstlers, zu erweitern sucht. Der „Realismus“ Giottos vor dem Hintergrund des etablierten byzantinischen Zeichensystems, das Null-Bild des Malewitsch, dessen Schwarzes Quadrat den schon „modernisierten“ Bildraum vollends zertrümmerte – sie sind Beispiele für Bildkonstruktionen, die „von der Wurzel her“ und rücksichtslos, also ohne den Traditionen und Konventionen zu folgen, neue Formatierungen des Vorstellbaren und des Sichtbarmachens vornahmen.
Die künstlerische, insbesonders die fotografische Dimension der neunziger Jahre beruht auf drastisch veränderten, in unterschiedlichen Richtungen verlaufenden lmplikationen. ln weitaus geringerem Ausmaß tritt das solitäre Kunstwerk, das seine Gesetzmäßigkeiten und Bedeutungsschichten in sich selbst umschließt, in Erscheinung. Die nach den späten sechziger und frühen siebziger Jahren neuerlich – wenn auch zum Teil mit veränderten Vorzeichen – in Kraft gesetzten Verflechtungen beziehen den sozialen Raum als Gebilde von unterschiedlichsten Systemen in die künstlerischen Produktionen und deren Anordnungen mit ein. Durch den Rekurs auf bestehende Wirklichkeiten taucht als eines der entscheidendsten Kriterien die Problematik der Differenz auf. Der Erkenntnisschritt des Wahrnehmens und der Analyse verschiedener Realitätsstufen kann vom alltäglichen ästhetischen Produktionsausstoß überlagert werden. Oft nicht als Gegenposition, sondern in Referenz zu dessen Qualitäten und Wirkungsmechanismen bildet das künstlerische Zeichen seine Gestalt aus.
Es ist damit – diesem Ansatz folgend – in jedem Fall an vorhandene Standards gebunden. Vor allem im Bereich der Fotografie, der mechanischen oder digitalen Bilderzeugung, scheint die Darstellung und Repräsentation der Welt(en) ausgereizt und auf jener Stufe fortwährender Selbstreproduktion angelangt, auf der weitere Bilder, von welchem künstlerischen Zuschnitt auch immer, wie Randbemerkungen zum weltweiten Produktionsalltag wirken könnten, wenn sie sich nicht einer radikalen Methode bedienen. Eine Radikalität kann sich unter diesen Voraussetzungen nicht mehr auf den Schock zurückziehen, sie setzt vorwiegend auf veränderte Konfigurationen, die die Wirklichkeitserfahrung decodieren. Damit rücken die unterschiedlichen, immer wieder zur Anwendung gebrachten Bildcodes in das Zentrum der Auseinandersetzung. ln einer solchen reflexiven Vorgangsweise werden bestehende Systeme aufgebrochen und modulartig ihrer vorherbestimmten und scheinbar einzig möglichen Leserichtung beraubt.
RADIKALE BILDER sind rücksichtslos in der Weise, daß sie den Systemen nicht gehorchen. Sie kommentieren das Grauen nicht als Beleg, sie sehen die Schönheit nicht als unwiderruflich an. Sie liefern nicht ein Rückzugsgefecht in das geschützte Terrain der Kunst. Sie bestätigen den schönen Schein, wenn er dadurch bloß als solcher entdeckt und bewußt werden kann. Die Entropie wird radikalisiert. Damit im Zusammenhang stehen Gebrauch und Verbrauch von Bildern in einer lnformationsgesellschaft, die sich der apparativen Herstellbarkeit – auf welcher Ebene auch immer – versichert und das vorrätige und gleichzeitig nivellierende Produzieren von Bildzeichen zur ausschließlichen Qualität erhoben hat. Auch und gerade vor dem Hintergrund der digitalen Bildpotentiale sollen RADIKALE BILDER offenlegen, daß die lmmaterialität des Bildes nicht das einzige Untersuchungsfeld fotografischer Methoden bildet.
Die Vielfalt der Möglichkeiten ist sowohl aktuelle Bestandsaufnahme als auch methodischer Zugang zu einem Phänomen: zu jener Matrix, die die Fotografie innerhalb der unterschiedlichen Bildarchive besitzt. RADIKALE BILDER reichern diese Archive an, weil sie Positionen einnehmen, die als gesellschaftlicher Wirkungsradius die unausweichlichen Bilderstapel aufzuarbeiten versuchen und vor diesem Hintergrund veränderte oder jedenfalls sichtbar gemachte neue Gestaltungsmuster entwerfen. Die Radikalität der Formulierung setzt im Unterschied zu herkömmlichen Verfahren innerhalb und außerhalb der Kunst nicht auf Bestätigung des Gewußten und die daraus entwickelten Arrangements, sondern unter anderem auf das Sichtbarmachen des Nicht-Bewußten, das sich durch die „Umgangsformen“ mit den unterschiedlichen Bildmaterialien einstellen kann. Radikalismus meint in diesem Fall den rücksichtslosen Formulierungsanspruch als künstlerisches lnstrumentarium.
Bei aller Vorsicht, die durch gegenwärtige Terminologien, mehr noch, durch aktuelle Haltungen und Handlungen angebracht sein mag, sind RADIKALE BILDER nicht eine zurückhaltend gebaute oder vage philosophisch untermauerte Hilfskonstruktion, sondern eine Organisationsform der Kunst. Das lnnen, also die konzeptive und gestalterische Entscheidung, aus dem sie entstehen, reagiert auf das Außen, in dem diese Bilder nicht nur lesbar werden sollen, sondern wo Bilder, insbesonders am Beispiel des fotografischen Mediums, einen Großteil des täglichen Lesestoffs abgeben. Es handelt sich dabei nicht um den großen, vergleichsweise einfach rezipierbaren Aspekt der Oppositionalität, der Kunst spätestens seit Beginn der Moderne auf breiter Basis zugeordnet wird, es handelt sich um die diffizile und weiterreichende Methode des Eindringens in klar determinierte Systeme und des Arbeitens in ihnen.
Radikal sind aber nicht nur die künstlerischen Annäherungsweisen an äußere Systeme, sondern ist das grundsätzliche Begreifen von Kunst als Teil eines größeren, sich immer wieder auflösenden und in anderer Form zusammensetzenden Ordnungsgefüges, in dem radikale ästhetische Entscheidungen zu treffen sind. Angst vor RADIKALEN BILDERN kann nur dann auftauchen, wenn ängstliche Argumentationen einerseits das Differenzproblem als künstlerische Kraft leugnen, andererseits die Positionierung von Kunst als Ort der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit durch eine fast rituelle Beschwörung offener Systeme verunklären und damit ein entscheidendes Paradigma gegenwärtiger künstlerischer Haltungen mit halbherziger Vorsicht zur Kenntnis nehmen.
MANUSKRIPT ZU: WERNER FENZ, Angst vor radikalen Bildern, ? IN: WERNER FENZ, Reinhard Braun (Hg.), Radikale Bilder. 2. ÖSTERREICHISCHE TRIENNALE ZUR FOTOGRAFIE, NEUE GALERIE AM LANDESMUSEUM JOANNEUM + Künstlerhaus Graz 1996, Graz:, EDITION CAMERA AUSTRIA, Neue GAlerie 1996, Bd. 1. S. 24 – 27..
ABBILDUNGEN: NEUE GALERIE GRAZ
Installationsfotos: Johann Koinegg Neue Galerie
Publikation
↑1 | Sarah Rogendorfer and Florian Rötzer in conversation with Jochen Gerz, in: Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/M. 1991, S. 535. |
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↑2 | Hans Belting, „Das Werk im Kontext“, in: Ders. u.a. (Hg.) Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1988, S. 222 – 239. |
↑3 | Vilém Flusser, „Fotografie als Kunst im öffentlichen Raum“, in: Fotografie als Kunst im öffentlichen Raum, Ausstellungskatalog, München 1991, S. 14. |