Geschichtsräume in der Gegenwartskunst

GESCHICHTSRÄUME IN DER GEGENWARTSKUNST

28,15,0,50,1
600,600,0,0,5000,1000,25,2000
90,300,0,50,12,25,50,1,70,12,1,50,1,0,1,5000
Graz 1988
Hans Haacke, "UND IHR HABT DOCH GESIEGT"
Projektentwurf, Graz 1996
Jochen Gerz, Die Gänse vom Feliferhof
Projektentwurf, Graz 1996
Jochen Gerz, Die Gänse vom Feliferhof
Hamburg-Harburg 1986-93
Esther und Jochen Gerz, Mahnmal gegen Faschismus
Wien 1983-91
Alfred Hrdlicka, Mahnmal gegen Krieg und Faschismus
Graz 1988
Hans Haacke, "UND IHR HABT DOCH GESIEGT"
München Propyläen, 1991
Hans Haacke, Die Fahne hoch
München Propyläen, 1991
Hans Haacke, Die Fahne hoch
München Meiserstraße/Arcisstraße 1991
Dennis Adams, Ehrentempel
München 1991
Dennis Adams, Ehrentempel
Graz 1988
Dennis Adams, Fallen Angels
München, Kunstverein 1986
Gerhard Merz, DOVE STA MEMORIA
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Geschichtsräume in der Gegenwartskunst werde ich vorwiegend an jenen Orten aufsuchen, an denen eine unmittelbare Überlagerung des kollektiven Gedächtnisses stattfindet und vorprogrammiert nicht widerspruchsfrei stattfinden kann.

Der öffentliche Raum ist dieses Forum, auch wenn er seine antike und neuzeitliche Funktion als Piazza an den elektronischen Informationsraum verloren zu haben scheint – nch dem Motto von Villém Flusser „Wer zuhause bleibt, hat Zutritt zu allen kulturellen Informationen, und wer das Haus verläßt, läuft Gefahr, Informationen zu versäumen“.1Vilém Flusser, Fotografie als Kunst im öffentlichen Raum, in: Kat. Ausst. Fotografie als Kunst im öffentlichen Raum, München 1991, S.16.XXX In einer solchen, durchaus ernstzunehmenden, Beobachtung tritt das globale McLuhan’sche Dorf in den Gegensatz zu regionalen und ortsspezifischen Informationsmustern; in den Gegensatz aber auch sowohl zu den traditionellen und noch lange nicht ausgereizten Mustern der Kunstübung und deren unglaublich vielseitigen, aus Invention, Verarbeitung und Brechung zusammengesetzten Bildpotential.

Die verstärkte exemplarische und schwerpunktmäßige Besetzung des öffentlichen Raums einerseits und der auf vielen Ebenen angesiedelte „mnestische“ Rückgriff2In einer wichtigen Abhandlung hat sich Heinz Schütz mit diesem Begriff auseinandergesetzt. H.Schütz, Jenseits von Utopie und Apokalypse? Zum Mnemismus der Gegenwartskunst, in: Kunstforum International, Bd.123, 1993, S.64-100. andererseits haben ihre Wurzeln in Kunsthaltungen der achtziger Jahre. Ohne darauf in einer Tiefenmessung näher eingehen zu können, seien nur das Repräsentationsbedürfnis von Staat und Wirtschaft, das neue Strategien von Künstlern und Kuratoren herausgefordert und zu einer neuerlichen Inbesitznahme dieses Ortes geführt hat sowie der Diskurs der Postmoderne und der Post-Histoire3Der in Sarajevo geborene und in Paris lebende Künstler Braco Dimitrijevic bezieht sich mit seinem Tractatus Post-Historicus (1976) auf Geschichtsräume, die er in die Gegenwart einspiegelt: In der Werkgruppe „Triptychos Post Historicus“, die er seit Beginn der 80er Jahre realisierte, wird die Gegenwart in ihren Systemstrukturen durch die Vergangenheit aktiviert und aktualisiert. als Auslösefaktoren genannt.

Auf den Mut (der Künstler) steht zwar nicht der Tod,4Zitat eines Fahnentexts von Esther und Jochen Gerz aus dem Projekt „Die Gänse vom Feliferhof“, Graz 1996. aber oft genug die Verweigerung der Auftraggeber, nach Kenntnis des Entwurfs diesen auch ausführen zu lassen bzw. das Veto öffentlicher Instanzen. Und dies nicht erst in einem durch gegenwärtige politische Entwicklungen erzeugten kunst- und kulturfeindlichen Klima.

Jochen Gerz, Die Gänse vom Feliferhof, Projektentwurf, Graz 1996

Jochen Gerz, Die Gänse vom Feliferhof, Projektentwurf, Graz 1996

Der deutsch-französische Künstler Jochen Gerz ist aus einem auf Einladung des Österreichischen Bundesheers ausgeschriebenen Wettbewerb zur Gestaltung einer Gedenkstätte für Opfer des Nationalsozialismus als Sieger hervorgegangen. Gerz hat nach historisch ausführlich recherchierten Vorgaben und aufgrund intensiver eigener Forschungsarbeit gemeinsam mit seiner Frau Esther im Vorjahr das Projekt „Die Gänse vom Feliferhof“ entwickelt. Beim „Feliferhof“ handelt es sich um einen auch heute noch verwendeten Schießplatz des Militärs Der Ort ist in mehrfacher Hinsicht mit Gewaltakten des NS-Regimes in der Steiermark verbunden und es wurden seit September 1941 vielfach Hinrichtungen registriert und von Augenzeugen beobachtet. Das von Gerz vorgeschlagene Projekt besteht sowohl aus einem Zeichenrepertoire als auch aus interaktiven Prozessen. Vier Fahnenstangen sind am für die Gedenkstätte vorgesehenen Ort geradlinig und in gleichem Abstand von 10 Metern über die Wiese verteilt. Ein Kiesweg führt von der allgemeinen Zufahrt quer durch die Wiese zu den Fahnen. Am Anfang des Weges, neben der Zufahrt, steht ein Info-Stand zur Gedenkstätte. Dort ist auch die seit 1980 bestehende Gedenktafel, am neuen Ort, in den Boden eingelassen. Die weißen Fahnen sind rot beschriftet: Auf Mut steht der Tod – Verrat am Land wird dekoriert – Barbarei ist die Soldatenbraut- Soldaten so heißen auch wir.

Jochen Gerz, Die Gänse vom Feliferhof, Projektentwurf, Graz 1996

Jochen Gerz, Die Gänse vom Feliferhof, Projektentwurf, Graz 1996

„Der Künstler als Historiker“, als Zeichensetzer aus einem bestimmten Anlass und Auftrag heraus, geht an diesem Beispiel von der zentralen Überzeugung aus, dass Verantwortung – Verantwortung für das Erinnern – nicht delegierbar sein kann. Damit unterscheidet sich der künstlerische Ansatz von Esther und Jochen Gerz, die auch bei anderen Projekten die Interaktion angeregt oder als wesentlichen Bestandteil des Werkes eingeplant haben, von anderen Denkmal-Künstlern, die zum Teil mit monumentalem oder expressivem Formenvokabular an solche Themenstellungen herangehen – siehe zum Beispiel das Antifaschismus-Denkmal von Alfred Hrdlicka in Wien,

Auch für Graz sind die Fahnen nur ein semiotisches Grundgerüst. Denn bei jeder Benutzung des Feliferhofs werden sie neu installiert. Die Fahnen werden an eine Gruppe von Rekruten ausgegeben, die sie an der jeweiligen Fahnenstange hissen. Beim Verlassen des Schießplatzes werden die Fahnen von diesen Rekruten wieder eingeholt und verwahrt. Das heißt, dass die Fahnen die Präsenz der Soldaten markieren. So sind auch Präsenz und Absenz der Fahnen abhängig von der Anwesenheit oder Abwesenheit des Militärs. Damit sind die Zeichen der Erinnerung und damit das ganze Projekt handlungsbezogen. Die Lesbarkeit (und Wirksamkeit) der Zeichen ist abhängig davon, ob erinnert wird (erinnert werden will) oder nicht. So hängt die Gegenwart (nicht nur der Fahnen) vom Bewußtsein der Erinnerung und der Bereitschaft dazu ab. Zwischen Erinnern und Vergessen liegt ein auferlegter Entscheidungsprozess Nicht das einzelne Zeichen, sondern dieser Prozess stellt „das Ganze“ dar. In weiterer Folge soll auch die innere Semiotik des Zeichens, also der Text, an jene, für die die Zeichen in erster Linie bestimmt sind, delegiert werden. Das „Denkmal in progress“ sieht vor, dass die künftigen Textbotschaften auf den Fahnen jährlich von den Rekruten selbst, anfangs gemeinsam mit dem Künstlerpaar, formuliert, die „alten“ Fahnen in die Sammlung des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums aufgenommen werden.

Esther und Jochen Gerz, Mahnmal gegen Faschismus, Hamburg-Harburg 1986-93

Esther und Jochen Gerz, Mahnmal gegen Faschismus, Hamburg-Harburg 1986-93

Immer wieder hat Gerz den Mnemismus, auch und gerade in der Denkmal-Kunst, auf eine andere als die traditionelle Stufe gestellt. Sein Antifaschismus – Denkmal in Hamburg-Harburg, ist vor allem im Vergleich mit dem Wiener Mahnmal von Alfred Hrdlicka, ein grundsätzlich neu ausgerichteter methodischer Beleg dafür. Das Monument erhebt sich als 12 Meter hoher, bleiummantelter Pfeiler und drängt zu seiner eigenen Aufhebung, denn: „Wir laden die Bürger von Harburg und die Besucher der Stadt ein, ihren Namen hier unseren eigenen anzufügen. Es soll uns verpflichten wachsam zu sein und zu bleiben. Je mehr Unterschriften der Stab aus Blei trägt, umso mehr von ihm wird in den Boden eingelassen. Solange, bis er nach unbestimmter Zeit restlos versinkt und die Stelle des Harburger Mahnmals gegen Faschismus leer sein wird. Denn nichts kann auf Dauer an unserer Stelle sich gegen das Unrecht erheben“. Heute ruht das Denkmal (seit 1993) versenkt in der Erde, der oberste Teil ist in einem verglasten Schacht neben dem S-Bahn-Eingang sichtbar. Gerz scheint sich hier paradigmatisch an Musils Bemerkung „Das Denkmal ist unsichtbar, das Zeichen ist sichtbar“5Robert Musil, Denkmale, 1936, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. Prosa, Dramen, späte Briefe, Hamburg 1957. zu orientieren. Indem er es mit Hilfe der Adressaten zum Verschwinden bringt, setzt er weiters auf der zeitlichen Ebene ein Verfahren in Gang, das ich als die fragmentarische Genauigkeit bezeichnen möchte. Die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte in Bezug zur Realität, deren Teil auch das kollektive Gedächtnis ist, haben sich in einer Art und Weise aufgebläht, die es niemandem – und daher auch dem Künstler nicht, da wir uns von seiner Rolle als „Obergenie“ längst verabschiedet haben – ermöglichen, das Ganze in Form einer abschließenden Beurteilung im Gesichtsfeld sowie im Denk- und Kopfraum zu haben.

Alfred Hrdlicka, Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, Wien 1983-91

Alfred Hrdlicka, Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, Wien 1983-91

Daher stoßen „abschließende Lösungen“, wie sie beispielsweise bei Alfred Hrdlicka auszumachen sind, an die Grenzen des seit langer Zeit fragwürdig gewordenen Begriffs von „Wahrhaftigkeit“, auch in der Kunst: einer Wahrhaftigkeit zum Beispiel auf der Ebene der Aufarbeitung von Geschichte. Hrdlickas Wiener Denkmal auf dem Albertina-Platz übersteigert in einer traditionellen expressiven Formensprache und monumentalisiert damit die Erinnerungsarbeit. So tritt die Schändung der Körper als mimetisch gestaltetes Ereignis in den Mittelpunkt. Die scheinbare Nähe des grausamen Geschehens schafft als virtuoser künstlerischer Akt Distanz. Unter dem Aspekt neuer, Großteils auch täglich eingeübter, ästhetischer Verhaltensmuster rahmt sich das Werk als Kunstwerk, das man nur als solches betrachten kann. Die Hamburger Arbeit von Gerz verläßt den Kunstrahmen. Es ist in seiner Erscheinung so „nichtig“, dass es kaum als Kunst ausgemacht werden kann, und dies ist zugleich seine Brisanz. Was auf den ersten Blick von der Absicht her „nur“ idealistisch aussieht, nämlich eine Unterschriftensammlung derer, die guten Willens sind, wird in der Öffentlichkeit konkret zugleich wie eine Art Schandpfahl genutzt und schließt in den vom Publikum angebrachten Signaturen auch die (fast) jeder Kunst im öffentlichen Raum entgegengebrachte Aggression mit ein.

Gerade darin zeigt sich gesellschaftliche Realität so, wie sie ist, das heißt: Der Gedanke des Widerstandes und der Solidarität ist in der Tat ständig bedroht, in seiner Ohnmacht unterzugehen bzw. wenn er als Zeichen, permanent oder temporär festgemacht wird, auch karikiert zu werden. Das jedoch gibt diesem Gedanken und damit auch diesem Werk seinen eigentlichen Sinn und seine Würde. Es gibt daher auch keine „falsche“ Nutzung; die Arbeit behauptet sich in diesem oder jenem Gebrauch, um letztlich zu verschwinden und nur mehr als Gedanke existieren.

Der Künstler als Historiker, wenn wir einen Titel in dieser Form wählen dürfen, trifft sich heute – in den wichtigsten Belegen einer Kunst der späten achtziger und der neunziger Jahre – mit der weitverbreiteten Praxis, dass der künstlerische Ansatz und der Gestaltungsmodus weniger im Kreieren von mimetischen, phantastischen oder kunstautonomen Figurationen besteht, sondern in der Beobachtung und Erforschung vorhandener Bild- und Systemstrukturen. Eine ausführliche Beschreibung bzw. visuelle Umsetzung von ausgeforschten Sachverhalten – wir sehen das am Beispiel der sogenannten Kontextkünstler oder der neokonzeptuellen Strömungen – steht im Zentrum dieser Strategien. Die politische, gesellschaftliche, soziale, historische oder insgesamt systemimmanente Recherche machen einen Großteil der angestrebten oder vermittelten Qualität aus. Dieses Modus bedienten sich auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer temporärer Projekte mit Blick auf die Geschichte und die in Bezug zu ihr erfolgende Zeichensetzung, wie zum Beispiel BEZUGSPUNKTE 38/88 in Graz oder ARGUSAUGE (1991) in München.

Hans Haacke, "UND IHR HABT DOCH GESIEGT", Graz 1988

Hans Haacke, „UND IHR HABT DOCH GESIEGT“, Graz 1988

Das sowohl gesellschaftlich als auch medial wirksamste Beispiel war zweifellos Hans Haackes „Und ihr habt doch gesiegt“ Am Eisernen Tor in Graz. Aus etwa zwei Dutzend zentralen, im öffentlichen Bereich gelegenen „Bezugspunkten“ zur Naziherrschaft in der „Stadt der Volkserhebung“ wurden von den Künstlern 16 „besetzt“. Haacke zielte auf die monumentale Rekonstruktion einer Ästhetik der Macht und Agitation. Er ließ die barocke Mariensäule getreu nach dem Vorbild mit Holz ummanteln und mit rot-schwarzem Stoff verkleiden und auf die Spitze eine Opferschale setzen. Dem wiederhergestellten Original, in der Achse der Herrengasse gelegen und mit der Inschrift „Und ihr habt doch gesiegt“ versehen, fügte der Künstler eine Auflistung der Besiegten in der Steiermark hinzu. Dem perfekt designten Objekt der „Bewegung“ wurde auf einer Plakatwand die Alltagspraxis des Bürgertums zur Seite gestellt: Kleinanzeigen mit beflissener Geschäftigkeit für Vaterland, Arier-Ehre und – Umsatz. Ein ästhetisch und inhaltlich entlarvendes Ensemble, das die herrschende Kunst- und Trivialideologie mit den eigenen Waffen zu schlagen versuchte. Es handelte sich um das kalkulierte Wiederherstellen von Normen, Zwängen und Verstrickungen am Beispiel einer urbanen Zeichensetzung von damals. Das Siegesmal schlug erst in der kritischen Rezeption von Geschichte in sein Gegenteil, ein Mahnmal, um. Dass in erster Linie das Freilegen von ästhetischen Normen, die mit einer Schreckensherrschaft verknüpft waren, und nicht das für den Rezeptionsvorgang Zwischenraum erzeugende, rein künstlerische Ensemble Wirkung zeigte, gipfelte im Brandanschlag auf das Kunstwerk, drei Tage vor Ende des Projektes.

Wir wissen, dass (zu)oft jedes, insbesonders jedes kulturell oder politisch besetzte Zeichen Ziel des Vandalismus werden kann. Damit muss die Kunst im öffentlichen Raum ebenso leben wie die U-Bahn-Wagen von New York bis Paris. Indem Haacke aber Geschichte 1:1 ins Bild, in den Raum setzte, reizte er die ästhetische Informationsschwelle in höchstem Maße aus. Auch hier stellt sich eine ähnliche Frage wie in Hamburg-Harburg (und nicht nur dort): Nämlich, in welcher Weise beeinflusst das Verlassen eines vereinbarten Kunstrahmens die Struktur eines künstlerischen Werkes auf der einen und die gesellschaftliche Realität auf der anderen Seite?

Hans Haacke, Die Fahne hoch, München Propyläen, 1991

Hans Haacke, Die Fahne hoch, München Propyläen 1991

Hans Haacke hat diese Methode des Wieder-Ins-Bild-Setzens von Elementen der Fest- und Repräsentationskultur am Königsplatz in München erneut verwendet Für eine Veranstaltung mit Schwerpunkt „Fotografie im öffentlichen Raum“ wertete er das Bildmaterial über die Propyläen zur Zeit der Nazi-Herrschaft aus. Schließlich schmückte er die klassizistische Architektur mit einem Transparent und Fahnen mit neuem Logo und veränderten Parolen, die die Zeitdimensionen und die Funktionalität des Platzes – vom Klassizismus über die NS-Herrschaft bis hin zur Gegenwart – miteinander verklammerten. Der Königsplatz war Fest- und Aufmarschplatz seit seiner Erbauung: Ob es sich um den Leichenzug König Ludwigs I. (1868), den Transport des Max II-Denkmals zu seinem Aufstellungsort (1875), die Dekorationen und Feierlichkeiten aus Anlass von Bismarcks 80.Geburtstag (1895), die Demonstration gegen die „Schuldlüge“ Deutschlands Im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg (1922), die unzähligen Paraden und Versammlungen der Nazis, den Großen Zapfenstreich der Bundeswehr (in den 80er Jahren) oder die „Marat“-Aufführung anlässlich der Jahrhundertefeier Frankreichs handelte. Als Festraum Hitler-Deutschlands hat der Platz im Sinne kollektiver Erinnerung seine makaberste Berühmtheit erlangt. Das Fahnenschwingen und Fahnenflattern der dreißiger Jahre muss immer wieder als entscheidende Komponente für die raffinierten und beeindruckenden ästhetischen Inszenierungen ideologisch-politischer Botschaften in Erinnerung gerufen werden. Vor allem durch die bildhafte Unterstützung der Parolen und Slogans wurde deren Rezeption in der breiten Masse wesentlich intensiviert. Die Fahne und ihre ausgeklügelte Emblematik stellten gezielte Elemente der in der Alltagswelt festlich aufbereiteten Sinnstiftung und Identifikationsförderung dar. Genau in diese Kerbe schlägt Hans Haackes penibel recherchierte und an den visuellen Fond der Ausgangszeit angebundene Arbeit. Er rekonstruiert an den Propyläen exemplarisch ein solches Festmotiv, verknüpft es, vom spezifischen Ort ausgehend, mit dem auf dem erweiterten Platzgeviert sich überlagernden Aktions- und Darstellungsmustern, und verlängert die darin enthaltenen Mechanismen in unsere unmittelbare Gegenwart herein. In regelmäßigen Ritualen wurden die „Blutzeugen“ von ihren repräsentativen Grabmonumenten in den Ehrentempeln aus „Zum Appell“ gerufen, um ihre Opferbereitschaft als gegenwärtig aktuelles Ideal zu signalisieren. Die in einem Rollenspiel verteilten „Hier“-Rufe registrierten die symbolische Anwesenheit der Märtyrer und schlugen so einen in seiner Kontinuität entscheidenden Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart.

Hans Haacke, Die Fahne hoch, München Propyläen, 1991

Hans Haacke, Die Fahne hoch, München Propyläen 1991

Haacke ruft im Angesicht des Kultur- und Geschichtszeugen Propyläen, denen er, zumindest für den Zeitraum der Installation, eine „neutrale“ Architekturform abspricht und sie als eines unter mehreren in genau kalkulierte Elemente machtpolitischer Demonstration verstrickt, die deutsche Wirtschaft „Zum Appell“.  Unter dem Zeichen des Totenkopfes, der in jedem Fall „gefährliches Gut“ markiert – übrigens ein erworbenes Emblem aus einem amerikanischen Militärladen – nimmt er sie, fein säuberlich aufgelistet, in die Mitverantwortung für den Krieg im Irak. Haacke dreht damit das Rad der Geschichte nicht zurück – im Gegenteil: In einem Längsprofil wird das ewig gleiche Rollen der Räder im Interesse wirtschaftlicher und machtpolitischer Prosperität – auch in Anspielung an das Relief mit Otto I. im Giebelfeld der Propyläen – von einem Ausgangsbahnhof bis zu einem bisher letzten Zielbahnhof verfolgt. Mag die Tatsache an sich bekannt sein, sowohl die vergangene wie die gegenwärtige, ihre Visualisierung im öffentlichen Raum erzeugt jenes beklemmende Bild, das als sichtbar gemachter Kontext an einem (historisch oft verdrängten) Ort und einer (durch künstlerische Intervention wieder gesellschaftspolitisch markierten) Stelle jede noch so seriöse begriffliche Tatsachenfeststellung übersteigt.

Wir stehen hier sowohl vor einer dieser grundsätzlichen als auch angewandten Kontextualisierungen. Letztere ist durch den Auftrag, das Ausstellungsprojekt, sozusagen funktional legitimiert. Legitimiert freilich nur auf ihrer inhaltlichen Ebene, nicht in ihrer formalen Konstellation. Diese verweist eindeutig auf das von wichtigen Kunstströmungen der letzten beiden Jahrzehnte aktivierte „Verarbeitungspotential“, das ein reines „Erfindungspotential“ als autonome Form künstlerischer Mittel verdrängt.

Dennis Adams, Ehrentempel, München Meiserstraße/Arcisstraße 1991

Dennis Adams, Ehrentempel, München Meiserstraße/Arcisstraße 1991

Lassen sie mich an zwei Beispielen des US-amerikanischen Künstlers Dennis Adams das fotografische „Inszenierungspotential“ gegenüber historischen Situationen vorstellen. An den aus historischem Bildmaterial rekonstruierten Eingängen der ehemaligen Ehrentempel, im Vorfeld des Königsplatzes gelegen, errichtete Adams zwei fast fünf Meter hohe und vier Meter breite „Reklametafeln“.  Sie stehen auf den in der Zwischenzeit  von Gräsern und Sträuchern überwucherten und zu einem Biotop ausgebildeten, von der Sprengung unbeschädigt gebliebenen Fundamenten. In der maßstabgetreuen Markierung des Ortes, der durch die Zur-Schau-Stellung der sterblichen Überreste der „Blutzeugen“ eine zentrale Weihestätte für den mit der Opfer-Ideologie verknüpften Machtanspruch der Nazis war, erweitert Adams die räumliche und historische Dimension des Königsplatzes. Die Bildinformation, die als Träger baustellenspezifisches, architektonische Neuordnungen und Eingriffe annoncierendes Material verwendet, wird dem Königsplatz vorgeblendet. Symmetrisch links und rechts der Achse angesiedelt, sind die Fotos Elemente der virtuellen Wiederherstellung eines einmal vorhandenen Demonstrationsraumes, sodass der Blick auf das klassizistische Forum nur durch einen unübersehbar vor das Auge geblendeten Filter freigegeben wird und eine noch so unvoreingenommene Sicht beeinflusst. Propyläen, Glyptothek und Antikensammlungen werden plötzlich zu der vorgelagerten Architekturruine in Bezug gesetzt.

Dennis Adams, Ehrentempel, München 1991

Dennis Adams, Ehrentempel, München 1991

Im Bildtransfer, den die beiden identischen Großfotos in Gang setzen, verwandelt sich ein potentielles Architekturmotiv in ein inszeniertes Porträt einer alten Frau. Die seitlichen Glühlampenleisten lassen die alte Architekturordnung anklingen; die Figur greift in ihrer Strenge und Isoliertheit in dem neu hergestellten Zusammenhang das Motiv der Zeugenschaft auf. Als klassische Rückenfigur blickt die an einem Schminktisch sitzende, in ihrem Habitus deutlich als Greisin erscheinende Frau in die Ferne. Diese Ferne erweist sich durch das räumliche Koordinatensystem und durch das Alter der Figur als genau festgelegtes Zeitprofil des Königsplatzes, nämlich jenes aus den dreißiger und vierziger Jahren. Über die „Blindheit“ des Spiegels wird die Raum-Zeit-Dimension des Hier und Jetzt zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Vergangenheit projiziert. Das bunte Licht des Garderobenplatzes künstlerischer Akteure kontrastiert mit dem nackten, ausgemergelten Körper, verfremdet das funktionsbestimmte aktuelle Rollenspiel und Rollenverhalten in den Kulissen des Theaters zu einem vergangenen, in den ästhetisch-ideologischen Versatzstücken der Polit- und Alltagswelt der Dreißigerjahre angesiedelten. Der Part der Figur bleibt, überprüft man die ersten vordergründigen Spekulationen aufgrund des bildlichen Befundes, letztlich unbestimmt. Überlebendes Opfer, Mittäterin oder Zeitzeugin? Bei aller Ambivalenz aber führt Adams durch die Möglichkeiten unterschiedlicher Klassifizierungen die Tatsache verifizierbarer historischer wie gegenwärtiger Kategorien im Bereich gesellschaftspolitischer Handlungsmuster vor Augen.

Dennis Adams, Fallen Angels, Graz 1988

Dennis Adams, Fallen Angels, Graz 1988

In Graz (BEZUGSPUNKTE 38/88) nahm Dennis Adams unmittelbar Bezug zur Eingangssituation jenes Hauses, in dem sich die Zentrale der Hitlerjugend befand. Der halbkreisförmige, verglaste Torbogen wird an den Seiten von zwei steinernen Putti flankiert, die in spielerischem Barockhabitus das Haustor bekrönen. Die leere Verglasung dazwischen sollte zum Feld eines „Logos“ werden. Adams, der sich seit vielen Jahren in seiner Kunst mit dem Verhältnis von Bildern zur Architektur beschäftigt – seine ersten Arbeiten auf diesem Gebiet waren die „Bus-shelters“ mit politischer „Reklame“ – steigert seine Gestaltung zunächst durch einen räumlichen Transfer. Die architektonische Situation wird vor der Wand des gegenüberliegenden Transformators gespiegelt. Der farbig in das Medium des Dias übertragenen gegenwärtigen architektonischen Ebene wird im „Glasfenster“ das schwarz-weiße Bild als historische inkorporiert: Hitlerjungen, symmetrisch gespiegelt. Sie stehen aufrecht in Reih und Glied, die Architektur steht auf dem Kopf. Dadurch werden die Barockputti zu „Fallen Angels“ – so auch der Titel der Arbeit, der sich als inhaltlicher Transfer auf den Elite-Nachwuchs, also auf das eigentliche Bildmotiv, bezieht.

Gerhard Merz, DOVE STA MEMORIA, München, Kunstverein 1986

Anhand dieser ausgewählten Beispiele, die sich durch zahlreiche andere, das verwendete System erweiternde, von Christian Boltanski über Marie-Jo Lafontaine bis Gerhard Merz ergänzen ließen, kann ein völlig neuer Ansatz im Umgang der KünstlerInnen mit Geschichte belegt werden. Nicht immer ist der Zugang frei von Konflikten im Bereich der kritischen Rezeption. Vor allem Lafontaine und Merz haben hier für entsprechenden Zündstoff gesorgt, da in ihrer Darstellungsweise anstelle der Distanz und Verarbeitung eine Vereinnahmung etwa nationalsozialistischer Ästhetik zum Teil mit großem Befremden diagnostiziert wurde. So war beispielsweise die von Gerhard Merz 1986 im Kunstverein München aufgebaute Installation „Dove sta memoria“ Ziel zahlreicher kritischer Attacken.6Merz ging mit seiner Kunst, die für ihn die Funktion eines Instruments besitzt, konkret auf den Ort der Intervention ein: Die jetzigen Räume des Kunstvereins waren ehemals Teil einer Wittelsbacher Galerie, im Jahr 1937 fand hier die Ausstellung „Entartete Kunst“ statt. Zum Konflikt führte neben der „heroischen“ Ausstattung der Räume vor allem die „Nachbildung“ eines Pylonen mit Opferschale als Vis-a-Vis zum Bildmotiv des „Kopfes“ von Otto Freundlich, eines Künstlers, der im Konzentrationslager umkam. Derselbe „Kopf“ zierte auch als Beispiel für „Schandkunst“ den Umschlag des Katalogs „Entartete Kunst“.

Dennoch kann zusammenfassend, ohne aus Platzgründen auf die angesprochenen „Grenzfälle“ im Detail eingehen zu können, folgende Diagnose für die aktuelle Auseinandersetzung mit Geschichte durch die Gegenwartskunst gestellt werden: Die Arbeitsmethode, der Gestaltungsmodus sind in erster Linie durch die aktivierte mediale und neu positionierte rezeptorische Ebene charakterisiert und dadurch, dass davon ausgehend eine aktuell referentielle Grammatik verwendet wird. Das Kunstwerk befindet sich unter anderem auch im Status eines Kompasses, der innerhalb der komplexen Systemverflechtungen nicht nur in der visuellen, sondern auch in der geistig-konzeptuellen Dimension den Weg weist.

MANUSKRIPT ZU: WERNER FENZ, Geschichtsräume  in der gegenwartskunst. IN: Kunst/Geschichte. Zeichen historischer Refelxion und ästhetischer Distanz, HRSG. VON GÖTZ POCHAT UND BRIGITTE WAGNER, KUNSTHISTORISCHES JAHRBUCH 27, GRAZ: AKADEMISCHE DRUCK- UND VERLAGSANSTALT 2000, S. 167-176
ABBILDUNGEN: INSTITUT FÜR KUNSTGESCHICHTE KARL-FRANZENS-UNIVERSITÄT GRAZ, Kunstverein München
FOTOS: ARCHIV FENZ-KORTSCHAK
PUBLIKATION

References
1 Vilém Flusser, Fotografie als Kunst im öffentlichen Raum, in: Kat. Ausst. Fotografie als Kunst im öffentlichen Raum, München 1991, S.16.XXX
2 In einer wichtigen Abhandlung hat sich Heinz Schütz mit diesem Begriff auseinandergesetzt. H.Schütz, Jenseits von Utopie und Apokalypse? Zum Mnemismus der Gegenwartskunst, in: Kunstforum International, Bd.123, 1993, S.64-100.
3 Der in Sarajevo geborene und in Paris lebende Künstler Braco Dimitrijevic bezieht sich mit seinem Tractatus Post-Historicus (1976) auf Geschichtsräume, die er in die Gegenwart einspiegelt: In der Werkgruppe „Triptychos Post Historicus“, die er seit Beginn der 80er Jahre realisierte, wird die Gegenwart in ihren Systemstrukturen durch die Vergangenheit aktiviert und aktualisiert.
4 Zitat eines Fahnentexts von Esther und Jochen Gerz aus dem Projekt „Die Gänse vom Feliferhof“, Graz 1996.
5 Robert Musil, Denkmale, 1936, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. Prosa, Dramen, späte Briefe, Hamburg 1957.
6 Merz ging mit seiner Kunst, die für ihn die Funktion eines Instruments besitzt, konkret auf den Ort der Intervention ein: Die jetzigen Räume des Kunstvereins waren ehemals Teil einer Wittelsbacher Galerie, im Jahr 1937 fand hier die Ausstellung „Entartete Kunst“ statt. Zum Konflikt führte neben der „heroischen“ Ausstattung der Räume vor allem die „Nachbildung“ eines Pylonen mit Opferschale als Vis-a-Vis zum Bildmotiv des „Kopfes“ von Otto Freundlich, eines Künstlers, der im Konzentrationslager umkam. Derselbe „Kopf“ zierte auch als Beispiel für „Schandkunst“ den Umschlag des Katalogs „Entartete Kunst“.