Kunst und Fotografie als notwendige Praxis
„Alle haben alles gesehen“.1Der Titel dieser Arbeit von Michael Schuster und Hartmut Skerbisch aus dem Jahr 1989
Man scheut sich, ver-wirrt und auf diesem Diskussionsniveau ohne seriöse Chance mit Folgewirkung ent-wirrt zu werden, auf der gebräuchlichen Termin-Klaviatur weiterhin zu spielen: Fotografie als Kunst, Kunst als Fotografie, Autorenfotograf, Künstlerfotograf oder was?2Diese Begriffe werden in den unterschiedlichsten Publikationen immer wieder akribisch aufgelistet. Vgl. u.a. „Geschichte der Fotografie in Österreich“, 2 Bde, Bad Ischl 1983 Die historischen Fakten der Annäherungen, der Abgrenzungen, der gegenseitigen Impulse, der Überlagerungen von Fotografie und Kunst sind ausreichend bekannt; geblieben sind die Probleme der begrifflichen Festschreibungen und deren mühsame Entflechtung. Dies liegt in erster Linie daran, daß der „Stammbaum“ der Fotografie in der Mediengeschichte und nicht a priori in der Kunsttheorie zu verfolgen ist. Wir als Akteure einer mediatisierten Gesellschaft sollten dabei vor keine allzu großen Probleme gestellt sein – müßte man meinen. Und dennoch: Gerade mitten in der Virulenz bildkünstlerischer oder raumspezifischer Äußerungen – im realen wie im virtuellen Sinn – und vor dem Hintergrund der neuen, immer weiter ausgebauten Zeichensysteme wird an dem fotografischen, fotokünstlerischen Part von außen nicht nur eine Fülle gestalterischer Aufgaben, sondern gleichzeitig das Klassifikationsmodell herangetragen. Liegt als Lösung eine fotografische oder eine künstlerische vor uns? Eine künstlerische mit den Mitteln der Fotografie, eine fotografische eines professionellen Fotografen, eines Amateurs, eines Kunstfotografen?3Peter Weibel, der die österreichische Fotoszene bis in die frühen achtziger Jahre auch überblicksartig theoretisch dargestellt hat, treibt die Nomenklatur bewußt auf die Spitze, indem er kuriose Unterscheidungsmerkmale und Klassifikationen einführt. Vgl. P. Weibel, Zur Geschichte der Künstlerfotografie, in: Camera Austria, Nr. 5, 6, 9, 13, 14. Was hindert uns eigentlich, von all den vielen aufgestellten Parametern nur den der Qualität des fotografischen Bildproduktes (oder dessen installativer Erweiterung in den Raum hinein) gelten zu lassen? In erster Linie wohl die fehlende Übereinkunft über die Definitionsfrage dieser Qualitäten. Denn sie liegen in vielen relevanten Bereichen, zumindest seit den frühen sechziger Jahren unseres Jahrhunderts, nicht mehr in der Handhabung des Mediums, sie sind aus dem handwerklichen Bereich der Fotografie oft ausgelagert. Die Projektion, die Kontextualität, der Bildentwurf, reflexives Verhalten innerhalb und außerhalb des Mediums liefern die entscheidende Grammatik, die das künstlerische Sprachgebilde formiert. Dieses findet sich nicht nur randständig in der landläufigen Klassifikation von Fotografie wieder.
Ein Vergleich mit verschiedenartigen Kunstsparten mag aufgrund der medienhistorischen Disposition der Fotografie hinkt, kann uns aber dennoch in unseren Annäherungsversuchen weiterhelfen. Immer öfter stellt sich heute die Sinnfrage, wenn wir von Biennalen der Druckgrafik, der Originalgrafik, der Aquarellmalerei oder gar der Kleinplastik Kenntnis nehmen müssen. Welche Relevanz besitzt, zum Beispiel, der Holzschnitt beim Ausformulieren künstlerischer Fragestellungen, bei den Antworten auf spezifische kulturelle, gesellschaftliche oder kunstsystemimmanente Phänomene? Über einen solchen Vermessungsraster führt sich das Beispiel selbst ad absurdum. Es kann aber schlaglichtartig – und damit bewußt vordergründig – aufzeigen, daß technische und werkstoffmäßige Qualifikationen nicht erst heute obsolet geworden sind. Freilich muß gerade im Fall der Fotografie, wie auch der größeren Komplexe der Bild- und Raumkünste, differenzierter vorgegangen werden. Denn die Matrix ihrer Bedeutung ist in anderen und weiteren Zusammenhängen zu sehen.
Für die Fotografie als ältestes technisch reproduzierendes Medium – in dieser Funktion ein täglicher Hersteller von Bildinformationen und neben den elektronischen Medien ein jederzeit verfügbarer und permanenter Weltbild-Erzeuger – stellen sich eine Reihe zusätzlicher Fragen. So in erster Linie die, vom Standpunkt der Ästhetik aus besonders wichtige, nach dem Referenzgrad zu ihrer eigenen Mediengeschichte und zur gegenwärtigen Medienpraxis. Von hier aus werden die „Fenster“ sowohl in die Menüs der rechnerischen Bild- und Datenverarbeitung als auch in die Bildkonfiguration anderer künstlerischer Techniken geöffnet. Die Modi der Gestaltung repräsentieren also nicht nur die Fotografie selbst, sie klinken in alle Bilderzeugungsinstrumente, auch die der Kunst, ein. Dieser heute nur in dieser Weise definierbare Status wirkt sich nachhaltig auf seine künstlerische Handhabung aus. Ob die Kamera dabei in der Hand des Fotografen oder der des Künstlers liegt, sollte längst außer Streit gestellt sein.
Positionierungen der künstlerischen Praxis
Ein Blick in die österreichische Kunstgeschichte (nach dem Zweiten Weltkrieg) und den gegenwärtigen „Zustand“ der Fotografie weist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und wohl auch zu den USA und Japan einen zwar wechselnden, in Summe aber sehr hohen Anteil von Künstlern an den wichtigsten Entwicklungsschritten auf. Es handelt sich dabei in erster Linie um mehrere von diesen eingeleiteten Paradigmenwechsel, die das fotografische Instrumentarium also nicht in eine ständig weitergetriebene Feinabstimmung der Technik, sondern in die Bildproduktion und –inszenierung in einem jeweils neuartigen Realitäts- und Raumdiskurs. Auch wenn diese Positionierung ein bezeichnendes Merkmal gegenwärtiger fotografischer Bildproduktionen bildet, läßt sich ihr Ursprung, freilich unter anderen Voraussetzungen und in anderer Ausformungfoto, erstmals in der breiten und qualitativ hochstehenden konzeptuellen Fotografie der späten sechziger und frühen siebziger Jahre beobachten. Aus dieser Zeit stammen markante Beiträge von Peter Weibel, Gottfried Bechtold, Valie Export und Richard Kriesche.
In Weibels „Selbstporträt als Anonymus“ (1961), dem „Selbstporträt als Frau“ (1967), dem „Stiegenhaus“ (1966) oder „Der Kuß der Wel(k)t“ (1967) – in den genannten Arbeiten wird eine Abfolge mit Veränderungen bis hin zur Auslöschung vorgeführt – sind vor allem das serielle und das filmische Prinzip der Sequenz, das etwa Friederike Pezold oder Friedl Kubelka-Bondy einige Jahre später aufnehmen und umformatieren werden, für diesen nur mittels fotografischer Erzeugungsmechanismen vorzuführenden Realitätstransfer verantwortlich. Im zentralen Element der Bildcollage (=Bildüberarbeitung), das schon zuvor Wolfgang Kudrnofski (1950) im surrealistischen Geist und Gerhard Rühm (z.B. 1958/59) als Strukturierung unterschiedlicher letztendlich neuer Leserichtungen eingesetzt hatten, arbeitet Weibel implizit medienreflexiv mit realistischen Bilddifferenzen, die den Wirklichkeitscharakter der Fotografie und ihre Authentizität vor Augen führen, indem sie diese sicht- und nachvollziehbar unterlaufen. Peter Weibel hat den fotografischen Diskurs wie kein anderer österreichischer Künstler mit „schnellen Bildern“ vehement und mit großer Folgewirkung vorangetrieben. Es ist hier nicht der Platz, auch nur die bedeutendsten Beispiele summarisch aufzuführen. Sie können und müssen aber als notwendiger Einstieg in eine entscheidende Bedeutungserweiterungen des Phänomens Fotografie und seiner Anbindung an eine radikal veränderte Realitätserfahrung als quasi pauschalierte Fakten in Erinnerung gerufen werden.
Denn Weibels Annäherungen sind grundlegende Dispositionen, die für Österreichs künstlerische Fotogeschichte eine hohe Relevanz aufweisen. In erster Linie tritt uns ein weit ausgebreitetes „Netzwerk“ gegenüber, das mittels fotografischer Darstellungen in die unterschiedlichsten Untersuchungsfelder einklinkt und diesen durch die Fotografie, rückbezüglich aber auch der Fotografie selbst, neue Dimensionen verleiht: Verbindungen zur Begrifflichkeit der Sprache, zu den Bild- und Realitätsmodi des Raumes, zur Identität von Realobjekt und Abbildungsobjekt, zum Instrumentarium von Oberfläche und Perspektive, zu vielfältigen Veränderungsprozessen der Wahrnehmung, zum Bedeutungswandel der Bildstruktur und den bisher festgeschriebenen Leserichtungen werden aufgebaut.
In rascher Abfolge wurden unter dem Aspekt der Mediatisierung diese Phänomene bearbeitet. Dabei entwickelte sich sukzessive ein neues Bildpotential, das künstlerische und fotografische Aspekte miteinander verschränkte und vor allem die Operationalität der Fotografie erweiterte. Sie wurde zum integrativen Bestandteil der Verbildlichung und Umsetzung neuer Denkmodelle und damit folgerichtig und konsequent in weiteren Schritten von ihrem „Beleg-Status“ für vorgefundene Wirklichkeit befreit.
Arbeit in Innen und Außenräumen
Die Raumerweiterung reicht bei Weibel und Kriesche bis zum sozialen und politischen Raum, bei Valie Export in die bis dato noch ungenützte Nische feministischer Erfahrungsebenen. In diesem Verständnis von Fotografie ist auch die dokumentarische Ebene mit enthalten. Aktionen wie Weibels „Anschläge“ von 1971, in denen der Künstler das semiotische System der Öffentlichkeit „beugte“ oder durch politische Behauptungen ergänzte; die Einpassungen, Anhockungen oder Nachfügungen von Valie Export, die sich mit ihrem Körper den Formen der Stadt, wie Gehsteigkanten, Mülltonne etc. anpaßte; die „Reisebilder“ (1971) von Gottfried Bechtold, in denen er vor verschiedenen Häusern posiert und einen europäischen Reiseplan zu dokumentieren scheint, sind nur als fotografische Dokumente realisierbar. Sie führen den aus der Mediengeschichte der Fotografie heraus bekannten Begriff des Dokumentarismus in einer vollkommen unprätentiösen Weise vor. Einer der entscheidendsten Unterschiede – und der bezieht sich explizit weitgehend auf das gesamte Umfeld der konzeptuellen und im gesellschaftlichen Umraum agierenden Foto/Bilder und Foto/Dokumente – liegt im Ausblenden einer aus der Tradition heraus definierten Fotoqualität. Die klare Wertigkeit von Bildfindung und Bild-Beleg vor professionalistischem Ausarbeitungsstandard setzte in der fotografischen Bilderwelt deutliche Signale und führte letztlich auch ein Konfliktpotential ein, das in immer neuen Formen bis heute wirksam ist. Darin liegt unteranderem auch die Ursache, für die Öffnung der Schere zwischen fotografischer Fotografie und deren künstlerischer Struktur. Im Primat innovativer Bildsprachlichkeit vor einem fotografischen Regelwerk, das heißt im veränderten Bilderzeugungsmodus, der die neuen Zeichensysteme der mediatisierten Gesellschaft miteinschließt und künstlerische Synonyme dafür entwirft, liegen die Leistungen der zeitgenössischen Ansätze und ihre historischen Tradition. Diese ist vor allem, durch ihr medienreflexives Verhalten, durch die Untersuchungen von Realität im Allgemeinen, von Foto-Realität im speziellen Sinn geprägt.
Gottfried Bechtolds Beitrag dazu liegt unter anderem in der Subsituierung der Realität durch fotografische Realität mit Hilfe der Augenscheinlichkeit des Fotos. Bild und Objekt werden durch ihn einer kritischen Reflexion in Bezug auf ihre Identität unterzogen. Diese Untersuchung kann sich bei ihm in zwei Extremen äußeren: der Auflösung und der Tautologie.4P. Weibel, in: op. cit. Camera Austria, Nr.13/83, Graz 1984, S. 5. Zwei der klassischen Beispiele dafür sind seine Arbeiten „Fingernägel schneiden“ (1973) und „Fazilet“ (1978). Im zeitlich früheren Beispiel werden die Realitätsebenen aufgedoppelt: Die fotografisch dokumentierte Aktion erfolgt mit Hilfe der fotografischen Abbildung. So hält eine fotografierte Hand das Foto von Fingern einer Hand, denen eine zweite Hand die Fingernägel schneidet: Wir sehen Hand, Schere und ein entlang der Fingernägelkuppen ausgeschnittenes Foto. Das Bild im Bild substituiert den Vorgang einer realen Aktion: Eines der entscheidendsten Elemente dabei ist jedoch, daß an die Fotografie selbst „Hand angelegt“ wird. In einer der Versionen von „Fazilet“ hält ein Mädchen mit ausgestreckten Armen ein Foto so vor sich in die Höhe, daß es davon verdeckt wird und nur mehr am oberen Rand die realen Finder zu sehen sind. Das fotografische Abbild besitzt die reale Form und Größe des abgebildeten und durch das Foto ersetzten Gegenstandes.
Wie Gottfried Bechtold bedient sich auch Valie Export der Fotografie als eines der zentralen Ausdrucksmittel in der Beschreibung und Erforschung von Wirklichkeitsverhältnissen und deren Transformation in den Bildbegriff. Sie arbeitet generell an der Schnittstelle von Aktions- und Bildkunst und konzentriert sich auf die medialen Eigenschaften des Fotos, wenn sie dieses mit den künstlerischen Recherchen verknüpft oder als selbständige Bild-Grammatik einsetzt. In der Serienarbeit „Ontologischer Sprung“ (1974) wird der Körper in eine spezifische Anordnung zu seiner – in diesem Fall landschaftlichen – Umgebung gebracht. Die extremen Größen- und Raumverschiebungen und eine rigoros eingesetzte Ausschnitthaftigkeit bestimmen die bildliche Realisation. Arme und Beine werden als Fragmente der Form und des Realitätsstatus in oft mehrfach reproduzierte und durch weitere Realitätsstufen angereicherte Landschaftsmotive eingefügt. „Für den Betrachter bedeutet dies einen Sprung in der Logik der Abbildung, wodurch ihm deutlich wird, daß es sich bei dieser Arbeit um verschiedene Generationen von Abbildungen handelt. Darauf weist auch die unterschiedliche Farbintensität von Bein und Landschaft hin“5Ursula Zeiler, in: Photo-Kunst, Ausstellungskatalog Stuttgart 1989/90, S. 274. Export ist in den siebziger Jahren vor allem daran interessiert, innere Zustände und soziale Befindlichkeiten des weiblichen Körpers in ihr weitläufiges Bildpotential aufzunehmen.
Dieser Themenschwerpunkt wird .u.a. von Friederike Pezold in ihren körpersprachlichen Arbeiten „Ohne Titel“ – Brustquetschungen oder „Schamwerk“, beide von 1973) und von Jana Wisniewski in dreidimensionaler, installativer Form – blow ups von menschlicher Haut in Verbindung mit Spiegelobjekten (vorwiegend in den achtziger Jahren) – auf anderen Realitätsstufen weitergeführt. Valie Export greift zudem oft auch auf historisches Bildmaterial zurück. Die Typologisierung weiblicher Körper in Beispielen der bildenden Kunst wird durch die Isolierung einzelner Körperhaltungen und den Ersatz der traditionellen Attribute durch solche, die den gegenwärtigen sozialen Status der Frau anzeigen, aufgebrochen und in das aktuelle kulturelle Umfeld transferiert. Mit dieser Methode führte die heute etablierte Filmkünstlerin, die sich in den letzten Jahren wieder verstärkt der fotografischen Ausdruckssprache zuwendet, eine entscheidende, gegenwärtig von anderen Blickwinkeln aus neu bearbeitete Matrix in den Fotodiskurs ein: Fragen nach dem Gebrauch von Bildern.
Über das Instrumentarium der Fotografie
Auch für Michael Schuster war eine bestimmte „Natürlichkeit“, wie sie im Umkreis der national ziemlich erfolgreichen Autorenfotografie der späten siebziger und frühen achtziger Jahre in verschiedenen Spielarten zu finden war, schon im Anfang seines künstlerischen Werks nur als Teil eines festgefügten, sich immer wieder selbst reproduzierenden Systems zu begreifen. Er brachte in die österreichische Fotoszene, und auch darüber hinaus, neue medienreflexive Fragestellungen ein, die er mit Konsequent weiterentwickelte, um die Mechanismen der Bildproduktion, die Räume der Fotografie und ihr industrialisiertes visuelles Potential zu vermessen. Gemeinsam mit Norbert Brunner führte er 1979 das Projekt „Dokumentarische Dialektstunde vom Fersental bis Garmisch-Partenkirchen“ durch, in dem ein streng vorgegebenes Raster das Raum-Zeit-Schema der Fotografie aktivierte und bewußt machte. Damals schon hatte Schuster einen wesentlichen Begriff in den Mittelpunkt seines Interesses gerückt, den der Information, und dies als Topos gegen die geläufige illustrative fotografische Informationstradition gesetzt. In noch deutlicherem Ausmaß schlugen sich Tendenzen, das System Fotografie ins Bild zu setzen, in der 1980 erstmal präsentierten Arbeit „Szenen aus dem gleichnamigen Stück“ nieder. Diese Serie aus Fotos, Installationen, reproduzierten Installationen, sowie aus mehr als einem Dutzend Postkarten wurde gemeinsam mit Hartmut Skerbisch entwickelt, der an der Fotografie auch im Zusammenhang mit der Ausbildung eines neuen Skulpturbegriffs interessiert war. Das Faktum „Alle haben alles gesehen“ wird an den Ausgangspunkt von „Szene aus dem gleichnamigen Stück“ gestellt und verweist somit von Anfang an auf die Tatsache, daß diese Arbeit auf den Grundlagen eines notwendigerweise reflektierten neuen Medienverständnisses aufbaut. Es verweist auf den Zustand „daß, nicht mehr zu übersehen, eine Apparatewelt entstanden ist, die praktisch ohne unser Zutun alle nur möglichen Bilder der Welt registriert und in jeder nur möglichen Weise wiedergibt…beinahe schon so, als würde menschliches Bewusstsein dafür gar nicht mehr gebraucht werden. Das ist der Punkt, an dem ‚Szene aus dem gleichnamigen Stück‘ einsetzt.“6Michael Schuster/Hartmut Skerbisch, Alle haben alles gesehen, in: Camera Austria 11-12/83, Graz 1983, S. 86.
Mit der „Amerika-Arbeit, Kodak-Urmeter in USA“ wurde das Projekt 1993 abgeschlossen. Das einen halbem Meter breite und zweieinhalb Meter hohe Siebdruck-Objekt, ein blow up der originalen „Kodak Color Control Patches“ (K.C.C.P.), wird aus dem Alltagsgebrauch zur Messung von Farbtreuer für die Zwecke er Reproduktion herausgelöst und als objekthaftes Hilfsinstrument in den Landschaftsraum, eines der wesentlichen standardisierten Fotomotive, nachdem die Industrie ihre Amateur-Produktpalette ausrichtet, verfrachtet. Dort steht nun das fotografische Urmeter ebenso als Objekt vor der Kamera, wird ebenso zum Motiv wie die Landschaft selbst. Schuster hat alle Bundesstaaten der USA bereist und die einzelnen „view points“, die ihm von den Tourismusverbänden der Regionen genannt wurden mit K.C.C.P. als Bild im Bild fotografiert. Diese Arbeit, in der sich Fotografie als standardisierte Motivsuche und die Instrumentarien ihrer näheren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Positionsbestimmung überlagern, wurde mit Nachdruck auch als „individueller Anschluss an die Land Art der späten sechziger und frühen siebziger Jahre“ bezeichnet.7Robert Fleck, in: Michael Schuster, Katalog (Neue Galerie Graz und Museum moderner Kunst Wien). München/Stuttgart 1993, S. 74.
Neue – vorwiegend mediale – Bildstrategien
In jenem Moment, als gegen Ende der achtziger Jahre die Autorenfotografie, die schon seit ihrer Initiation immer wieder durch bestehende oder sich ständig entwickelnde Phänomene ergänzt worden war „Reflexion und Ausweitung des Medium“, documenta VI, Kassel 1977 oder „Erweiterte Fotografie“, Wien (1981), in Österreich in eine Identitätskrise geraten war, bot das Künstlerpaar Horáková & Maurer weitere neue, grundlegend fotografisch ausgerichtete Positionsbestimmungen an. Ihre aus einem präzise gefassten Kunstkontext entwickelten installativen Realisationen umfassten neue mediale Bildstrategien die weder das konzeptuelle noch das autorenfotografische Moment in den Mittelpunkt rückten. Der Bezug zu einer gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit wurde über eine kunst- und medienreflexive Ebene hergestellt. In großformatigen Fotobahnen „Helles elektronisches Grün“ oder „Elektronisches Weiß“ (1992) verweisen enorme Vergrößerungen des elektronischen Testbilds auf die farbtechnischen und damit visuellen Grundlagen der heute wichtigsten Bildererzeugungsmaschinen. Die Bedeutung und unmittelbare Wirkung dieser Arbeiten liegt in erster Linie darin, daß sie die Fotografie nicht als eines der visuellen Ausdrucksmittel zur Durchsetzung konzeptueller oder indifferenter kontextueller Strategien benutzen, sondern daß das fotografische Bild selbst in seinen vielschichtigen Dimensionen Thema des Gestaltungsprozesses ist. Im Anspruch an die Fotografie, das eingeübte Abbildungsprozedere von Realität aufzulösen und statt dessen jene Wirklichkeit sichtbar zu machen, die uns heute als Design, als Warenästhetik, als Produktstandard, als historisches Kontinuum wie als gegenwärtiger Pool von Gebrauchswert, Form und Bedeutung umgibt, lösen Horáková & Mauerer hohe kunstmediale Forderungen ein.
In Robert Adrian X, Herwig Kempinger, Hans Kupelwieser, Wilfried Mayrus, Andrea van der Straeten, der Gruppe „Die Damen“ oder Maria Hahnenkamp, Andrea Sodomka, Günther Selichar, Eva Schlegel, aus der jüngeren Generation, besitzt die österreichische Kunstszene eine exemplarische Reihe weiterer Persönlichkeiten, die den fotografischen Diskurs entscheidend in Gang setzten und/oder in der gegenwärtigen Praxis weiterführen. Mit den unterschiedlichsten Methoden wird das künstlerische Potential des Licht-Bildes ausgelotet und aus der Beengtheit und den kategorischen Bedingungen des Abbildens freigespielt. Der Gegenstand, das Motiv sind keine bloß austauschbaren Konstanten, sie werden in der tradierten Form als Parameter des Mediums in Frage gestellt, das heißt in Hinblick auf ihre inhaltliche Bedeutungsstruktur abgefragt. Kriterien diese modifizierten Fragenkatalogs sind, wie gezeigt werden sollte, die in die eigene Körperlichkeit transferierte Objekthaftigkeit des Aufnahme-Gegenstandes, der Gebrauchswert und die Funktion fotografischer Bilder, die Brechung des normativen Augenscheins durch Objekt-Konstrukte, die paradigmatisch die Linearität des Authentischen aufheben und damit die Diversion des eindimensional bearbeiteten fotografischen Materials einleiten.
Unter den zahlreichen, die Fotografie konstituierenden Bildmodi nimmt der Raum-Flächen-Bezug eine zentrale Stellung ein. Die Problemstellung vor dem Hintergrund des heute in seinen realen Konturen verwischten und sich dadurch in seiner gewohnten Konfiguration auflösenden Raum erforscht Herwig Kempinger mit eindrucksvollen subjektiven Positionierungen. Auf der zweidimensionalen Bildfläche erzeugt er Körper, die zueinander in Beziehung stehen, denen aber sowohl der objektive mimetische Bezug als auch der Dimensionsbezug fehlt. So gerieren sich diese Objekte als reine Bildkörper aus Licht und Schatten, ohne auf einen konkreten Außenbezug zu rekurrieren. Damit hebt Kempinger das die Fotografie bis in die Gegenwart bestimmende Identifikationsmodell auf, lässt „Raum und Bild kollidieren.“8Carl Aigner, in: Fisch & Fleisch, Photographie aus Österreich, Ausstellungskatalog, Krems 1995, S. 56. Auf eine andere Weise verändert auch Eva Schlegel den traditionellen Raumbegriff bzw. seine geläufigen Darstellungsmuster. Die zufällig aufgefundenen historischen Fotografien, zumeist in Siebdruck auf Blei „umkopiert“, scheinen als dünne Haut auf die Oberfläche des verwendeten Materials aufgezogen. Dem ersten Blick durch Unschärfe und Materialverfremdung beinahe entzogen, müssen die anonymen Bilder erst Schritt für Schritt neu gelesen werden. In diesem Akt der Dechiffrierung gibt Schlegel eine andere Leserichtung als die des raschen Wiedererkennens von Sachverhalten vor. Raum und Zeit werden auf der Oberfläche des neuen Bildträgers inkorporiert.
Um Positionierungen zu veranschaulichen, sollten die Anfänge und gegenwärtige Praxis zur Sprache kommen. Das Potential der unterschiedlichen Beiträge ist umfangreicher und konzentrierter in seiner Bedeutung als der Blick von außen das bisher wahrgenommen hat. Eine intensive Aufarbeitung und strikte Präsentation der skizzierten Phänomene steht noch aus.
WERNER FENZ, Kunst und Fotogafie als notwendige Praxis. „Alle haben alles gesehen. IN: Antagonismes. 30 ans de photographie autrichienne / 30 Jahre österreichische Fotografie. Centre National de la Photographie, Paris 1996 S. 131-136
ABBILDUNGEN: CENTRE NATIONAL DE LA PHOTOGRAPHIE, Neue Galerie am Landesmuseum JOanneum, 1. Wiener Museum für Bodyart und Videoart, Galerie Anatia Beckers, Fotogalerie Wien
FOTOS: ARCHIV FENZ-KORTSCHAK
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↑1 | Der Titel dieser Arbeit von Michael Schuster und Hartmut Skerbisch aus dem Jahr 1989 |
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↑2 | Diese Begriffe werden in den unterschiedlichsten Publikationen immer wieder akribisch aufgelistet. Vgl. u.a. „Geschichte der Fotografie in Österreich“, 2 Bde, Bad Ischl 1983 |
↑3 | Peter Weibel, der die österreichische Fotoszene bis in die frühen achtziger Jahre auch überblicksartig theoretisch dargestellt hat, treibt die Nomenklatur bewußt auf die Spitze, indem er kuriose Unterscheidungsmerkmale und Klassifikationen einführt. Vgl. P. Weibel, Zur Geschichte der Künstlerfotografie, in: Camera Austria, Nr. 5, 6, 9, 13, 14. |
↑4 | P. Weibel, in: op. cit. Camera Austria, Nr.13/83, Graz 1984, S. 5. |
↑5 | Ursula Zeiler, in: Photo-Kunst, Ausstellungskatalog Stuttgart 1989/90, S. 274. |
↑6 | Michael Schuster/Hartmut Skerbisch, Alle haben alles gesehen, in: Camera Austria 11-12/83, Graz 1983, S. 86. |
↑7 | Robert Fleck, in: Michael Schuster, Katalog (Neue Galerie Graz und Museum moderner Kunst Wien). München/Stuttgart 1993, S. 74. |
↑8 | Carl Aigner, in: Fisch & Fleisch, Photographie aus Österreich, Ausstellungskatalog, Krems 1995, S. 56. |