Die Steiermark im 20. Jahrhundert: Kunst zwischen 1938 und 1999
3 Fotografie und fotografische Konzeptionen
Als Karl Neubacher 1971 sein ”herbst”-Plakat affichierte, mit seinem unterschiedlich retuschierten und mit Pfeilen bezeichneten Porträtkopf, war Fotografie in unerwarteter Weise im Stadtraum präsent. Mehr als 20 Jahre später ”veröffentlichte” Rudi Molacek auf einer Baustellenwand gegenüber der Neuen Galerie die Text- und Randstreifen seiner abstrakten Fotos als Plakate und Matta Wagnest klebte kleinformatige Schwarz-Weiß-Kopien ihres ”Gruppenfotos” aus der ”Österreichischen Triennale zur Fotografie: KRIEG.”1KRIEG. Österreichische Triennale zur Fotografie, Graz 1993. Veranstaltet vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst, durchgeführt von Werner Fenz (Neue Galerie) und Christine Frisinghelli (Forum Stadtpark) auf Hausfassaden, Zäune, Fenster und auf offizielle Anschlagtafeln. Im selben Jahr, in dem sich Neubacher auf den Plakatwänden selbst darstellte, befragte Richard Kriesche in London den öffentlichen Raum im Verhältnis von fotografischem Bild zur Öffentlichkeit, indem er sich in einem Polaroidfoto-Ausschnitt zur Schau stellte und die Menschen zum Fotografieren mit Hilfe einer Polaroidkamera animierte. Diese Fotos wurden um den in fotografischer Position verharrenden Künstler arrangiert, sie rahmten ihn ein.
Ein junger Meisterschüler der Kunstgewerbeschule, Manfred Willmann, verfertigte 1971 ein lebensgroßes fotografisches Selbstporträt, das den Körper und die parallel dazu abgebildete Gewand-Haut in einzelne Segmente aufsplittete und die ”Wirklichkeit” fotografisch fragmentierte. Ein Jahr später, 1972, begründete Erich Kees, der sich ”nicht notgedrungen, sondern aus Überzeugung” als Amateur deklarierte,2 Erich. Kees, in: Ausstellungskatalog, Bregenz sehen Bregenz, Graz 1975, S. 34 den ”Landesförderungspreis für Fotografie in der Steiermark”, den ersten österreichischen Wettbewerb jenseits von Vereins- und Staatsmeisterschaften der Amateurfotografie. Dieser Preis wird bis heute (seit 1981 von der Neuen Galerie) im Auftrag des steirischen Kulturreferates durchgeführt.3In den letzten Wochen kursierten Überlegungen durch die Medien, das daran gedacht sei, diesen Preis in Zukunft mit dem Kunstpreis zusammenzulegen FotografInnen aus allen Landesteilen nahmen am ”Fotopreis” teil; die Fotografie war ihre Leidenschaft, sie war ihnen ein Mittel, um kreativ zu sehen. Dieses ”kreative Sehen” sollte systematisch forciert und dafür ein Wettbewerbsforum geschaffen werden.
Unter den ersten Preisträgern fanden sich mit Elisabeth Kraus, Branko Lenart, Helmut Trummer und Manfred Willmann vier Mitglieder der TVN-Fotogruppe, die Erich Kees als Bildungseinrichtung der Naturfreunde leitete. Als blutjunge Anfänger, zum Teil Schüler, waren sie diesem Verein beigetreten. Er war die wichtigste Anlaufstelle für jene fotografischen Orientierungen, die im Bereich der Amateurfotografie, und in späterer Nachfolge der Autorenfotografie, damals vorgenommen werden konnten. In der Person von Erich Kees vereinigte sich das eigene vorbildhafte Oeuvre, das vielen unkonventionellen Ansätzen, darunter insbesondere denen von Otto Steinert, offenstand, die im Verein praktizierte Zusammenarbeit mit dem 1967 früh verstorbenen Herbert Rosenberg, mit Max Puntigam und Eckart Schuster sowie das unbändige Engagement zu vermitteln, dass mit Hilfe der Fotografie eine neue, kreative Welt-Sicht gewonnen werden könne.
Mit Eckart Schuster wurde über den Einfluss seines Werks hinaus das damals besonders wichtige institutionelle Koordinatensystem wesentlich erweitert: Schuster war Gründungsmitglied des Forum Stadtpark, hatte dort im Eröffnungsjahr 1960 eine Ausstellung, und er unterrichtete Fotografie an der Kunstgewerbeschule. Die Motive der ersten Preisträger-Arbeiten waren Landschaften und vor allem Menschen. Die Fotos präsentierten Anfang der siebziger Jahre den direkten, subjektiv gestaltenden Blick auf den unmittelbaren Umraum: auf den Menschen und/oder sein soziales Umfeld.
Ein Fotografie-Diskurs fand zu jener Zeit österreichweit praktisch nicht statt: ”Magnum” mit seinem Chef-Reporter Franz Hubmann gehörte bereits der Vergangenheit an, Inge Morath, die Grazerin, war längst in den USA. Von Einzelleistungen abgesehen schien die Freizeit-Fotografie den roten Faden zu bilden. Aus diesem Grund waren die steirischen Initiativen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, zunächst im kleinen Kreis, eine Fotoszene aufzubauen, weit über den eigentlichen regionalen Raum hinaus signalhaft wirksam. Auch Otto Breicha, der als Publizist und Leiter des Grazer Kulturhauses knapp vor Mitte der siebziger Jahre entscheidende Impulse für die österreichische Fotografie setzte, attestierte: ”Gerade nur im Steirischen hat sich unter den jüngeren Fotografen ein gewisses Gruppenbewusstsein eingestellt”.4Otto Breicha, in: Ausstellungskatalog Kreative Fotografie in Österreich, Graz/Wien, 1974, S. 4
In seiner Ausstellung ”Kreative Fotografie aus Österreich” (1974) – bezeichnenderweise taucht damals immer wieder dasselbe Adjektiv auf, um Qualität und den Abstand zur Amateurfotografie zu signalisieren – waren mit Erich Kees, dem Weizer Richard Kratochwill, mit Elisabeth Kraus, Branko Lenart, dem Leibnitzer Helmut Trummer, dem Mürzzuschlager ”Geheimtipp” Felix Weber und mit Manfred Willmann sieben Steirer vertreten: ”Der Nachdruck liegt beim Kreativen (’Schöpferischen’), bei der Erfindung von Bewußtseinszusammenhängen und Einbildungen, nicht im Abbildlichen. Obzwar es in der Ausstellung gewiss auch ’schöne’ Bilder gibt, soll sie, alles in allem mit den landläufigen Fotoausstellungen nichts zu tun haben, die schon gar nichts dazu beitragen, daß Fotografie als Medium und Möglichkeit recht erfaßt würde”.5Otto Breicha, op. cit., S. 4 Ein probates Mittel, diese Kreativität zu fördern, stellten Workshops vor Ort, andernorts, auch und besonders im Ausland, dar. Die legendäre Workshop- und Arles-Ära setzte ein. Der 1. österreichische Fotoworkshop fand, mit den TeilnehmerInnen der Ausstellung ”Kreative Fotografie aus Österreich”, 1974 in Bregenz, der zweite ein Jahr später in Graz statt.
Fotografie – das war aber in Graz nicht nur Schauen und Sehen, sondern auch Denken in und mit Bildern: Fotografie als Medium der Raum- und Realitätserfahrung im ontologischen Bereich.
In der Galerie H zeigte Karl Neubacher (*1926 in Hetttenberg +1978 in Graz) seine Fotoserie ”Halbkleidung” (1973). In konsequenterer, weil nicht an den Auftrag gebundenen Haltung (wie beim ”herbst”-Plakat 1971) inszenierte sich der Grafiker und Filmemacher über das Medium Fotografie selbst. Die von Kopf bis Fuß der Länge nach halbierte Kleidung wird schichtenweise abgelegt und jeweils der entblößten Hälfte gegenübergestellt. Dieser körpersprachliche Ansatz, den Neubacher weiterführen wird, weist hier autobiografische Enthüllungsstrategien auf: Neubachers Stützprothese am linken Bein wird sichtbar. Jene fotografische Semantik, die im Abbilden auch das Aufdecken vereint, die äußere Zeichen für innere Zusammenhänge setzt, die (Selbst)Erkenntnis veröffentlicht, setzt Maßstäbe in der Verwendung des fotografischen Bildes.
Auch Richard Kriesche dienten die Massenmedien Foto und Video/Fernsehen zur Erweiterung der künstlerischen Praxis. Nachdem er bereits 1972 seine ”Ausstellung der Galerie beim Minoritensaal in der Galerie beim Minoritensaal” konzipiert und eingerichtet hatte, setzte Kriesche das Foto als Beleg für den Realitätstransfer und den Austausch von Wahrnehmungsinhalten in den Projekten ”Installation” (Neue Galerie) und ”Kapellenstraße 41” (Privater/öffentlicher Raum) des Jahres 1973 in konzentrierter und sich verdichtender Form ein. Für Kriesche war das Foto als Instrument des Sichtbarmachens von Zusammenhängen auch in vielen seiner späteren Arbeiten ein entscheidendes Gestaltungsmittel. Eben ein Gestaltungsmittel im weitesten Sinn mit all den traditionellen Klassifikationen von Fotografie (Schnappschuss, Authentizität, Dokumentation, Reproduktion), und nicht nur ein Beleg für konzeptuelle oder mediale Strategien. Der Schwerpunkt, die Bildinformationen, aber verlagerte sich von der künstlerischen Komposition, der Harmonie der Grauwerte etc. in Richtung sozialem Gebrauchsmuster der Fotografie.
Auf einer vergleichbaren Ebene war für Peter Gerwin Hoffmann die Fotografie Bestandteil seiner Projekte. So etwa für die Arbeit ”Bürgerlicher Realismus – Sehen wie man gesehen wird” (trigon 1979): 50 Reproduktionen von Bildern des bürgerlichen Realismus konfrontierte er mit 50 Polaroidfotos vom Tag der Eröffnung und den ”freigelegten” Bildern von Frau/Mann und Mann/Frau aus den 4 Grazer Tageszeitungen, um ”die Rolle von Mann und Frau am Tag der Eröffnung der Ausstellung im Vergleich zu der Rolle von Mann und Frau auf Bildern des bürgerlichen Realismus aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts”6Peter Hoffmann, in: CAMERA AUSTRIA 14/84, Graz, 1984, S. 28 sichtbar zu machen. In ”Ein Teil derer für Alle”, Hoffmanns Beitrag für das Forum-Stadtpark-Projekt ”Schöpfer Gottes” (1983), stand der ”reale Bildgrund unserer staatlichen Existenz” im Mittelpunkt der Konzeptrealisierung. Hoffmann ließ sich mit der ”zweiten Wirklichkeit, wie sie durch die Fotografie besteht und praktiziert wird”, ein. Er erbat sich das offizielle Bild des Staatsoberhauptes von allen Ländern der Welt. Einige Dutzend konnte er in der Ausstellung zeigen. Der Umgang mit Bildern von Staatsoberhäuptern und Idolen, das heißt der Gebrauch von Bildern bei Demonstrationen, Revolutionen etc. bildete den zweiten Teil des Projektes.
Die kontinuierlichen fotomedialen Projekte, die Basisarbeit der TVN-Fotogruppe, der ”Steirische Fotopreis”, die unter starker steirischer Beteiligung stattfindenden österreichischen Workshops und Ausstellungen führten zu ersten Positionsbestimmungen innerhalb eines vielfältigen Konglomerats fotografischer und fotokünstlerischer Ideen und Äußerungen. Für das Knüpfen internationaler Kontakte, an denen vor allem die junge Generation mit Branko Lenart und Manfred Willmann mit initiativem Engagement interessiert war, drängte sich ein quasi institutionalisierter Präsentationsort außerhalb des Fotoklubs auf.
So konnte Manfred Willmann (*1952 in Graz) 1975 die Fotogalerie im Forum Stadtpark einrichten und ein Programm starten, das von Anfang an neben heimischen auch internationale FotografInnen umfasste, darunter bereits 1977 die Klassiker Baltz, Friedlander, Gibson und Michals. Die eigene fotografische Arbeit stand zu diesem Zeitpunkt im Dialog mit konzeptuellen Wirklichkeitsbegriffen und selbstreflexiven medialen Erkundungen. Es muss immer wieder auf einzelne Serien hingewiesen werden, die für das Gesamtbild der Fotogeschichte Österreichs höchst relevant sind. Als unverkennbar stellt sich dabei heraus, dass die fotografische Praxis mit Modellen künstlerischer Raumuntersuchungen und Realitätstransfers erweitert wird. Manfred Willmann hat schon bei ”Bregenz sehen” (1975) einige Bilder präsentiert, in die mit Hilfe eines banalen Rasierspiegels die jeweils gegensätzlichen Räume zum abgelichteten Motiv eingeblendet oder die realen Grenzlinien eines Promenadengeländers in die Horizontale der abstrakten Spiegelfläche verlängert wurden. Seine im selben Jahr entstandene Serie ”Horizonte” führte diese Bild- und Raumanalyse in ”gereinigter”, konzentrierter Form weiter. Die Begrenzungslinie wird dort visualisiert, wo zwei unendliche Räume, im Ausschnitt sichtbar und erfahrbar gemacht, aneinanderstoßen. Durch das Einfügen von konkreten Objekten als Instrumente, wie Spiegel oder halbgefüllte Flaschen, werden Verhältnisse, Systeme und ihre bildlichen Darstellungsmuster begreifbar: Die fotografische Semantik weist über ihren Motivausschnitt hinaus.
Auch Branko Lenart (*1948 in Ptuj) beschritt mit seinen ”Mirrorgraphs” (1975) und seinen ”Selfportraits” (1979) einen ähnlichen Weg. Vor allem in den Selbstporträts entwickelte Lenart eine spezifische Methode, die Teile seines Körpers und Sehhilfen bzw. -apparate, Bein- und Armextremitäten, die Brille, den Fotoapparat, in körperlich bedingter Distanz vor die Kamera halten und das eigene Ich und dessen Wahrnehmungsinstrumentarium direkt der Welt in ihrer Erscheinungsweise Natur gegenüberstellen. Diese visualisierte Selbsterfahrung mag mit zwei Ausstellungsprojekten der Künstlergruppe ”Pool” (”Körpersprache” 1973 und ”Kunst als Lebensritual” 1974) korrespondieren: Jedenfalls wurde an einem international relevanten künstlerischen Zeitdiagramm mit kongruenten fotografischen Mitteln fortgeschrieben. Diese setzte Lenart in seinen ”Konzeptuellen Arbeiten” von 1976 bis 1978 z.B. in ”Presenting Photographers” ein. Die ausgestreckten, den Kopf des Gegenübers berührenden Hände legen den Abstand des Objekts von der Kamera fest. Auch in einer Serie mit der Bestimmung des Bildausschnitts, bei dem ein schwarzes, das Bildformat füllendes Rechteck in verschiedenen Distanzen (bis hin zur völligen Abdeckung des Objektivs) zwischen Kamera und Motiv gehalten wird und Sichtbares ebenso enthüllt wie verhüllt, findet sich ein vergleichbarer Ansatz.
Manfred Willmann reizte die Bedingungen des Mediums in den ”Kontaktporträts 1:1 und 10:1” (1976 – 78) weiter aus. Die Kapazität des Kleinbildfilms mit seinen 36 Aufnahmen bildet in fünf horizontalen und sieben vertikalen Koordinaten den Raster, der über ein Porträt gelegt wird. Der Abgebildete erscheint in seiner Gesamtheit 1:1, die sechsunddreißigste Aufnahme ist einem ausgewählten Detail (im Verhältnis 10:1), das für die Person besonders typisch zu sein scheint, vorbehalten. So reproduzieren diese Kontaktporträts Wirklichkeit in zweifacher Weise: die Wirklichkeit des Porträtierten und die Wirklichkeit des verwendeten Filmmaterials, das durch seine Quantität ins Spiel gebracht wird. Fotografische Authentizität und Autorität heißen die Parameter, nach denen die Ablichtung erfolgt bzw. die durch das Ablichten erzeugt werden.
Mit diesem künstlerisch-konzeptuellen Instrumentarium wurde in den siebziger Jahren vor dem Hintergrund einer auch regional virulenten Kunstszene die Fotopraxis angereichert. Ein exemplarischer Blick in die Vergangenheit kann aufzeigen, welche bedeutenden Ergebnisse in der steirischen Foto-Landschaft erzielt wurden, die nicht hoch genug einzuschätzen sind. Vor der Gesamtheit fotomechanischer Bildproduktionen wird der Rang dieser Leistungen deutlich; das parallel laufende Diagramm des ”Fotopreises” relativiert in dieser Zeit, auch als Spiegelbild der damaligen Wettbewerbsbedingungen mit ihrem Spartendenken (Schwarz/Weiß-, Farbfotografie und Dias), die Aussage. Dadurch, dass mit dieser Art des ”Förderungspreises” die Schere zum Amateurbereich in der Fotografie weit geöffnet wurde, war auf dieser Schiene ein ”kreativer” Nachvollzug relevanter Entwicklungsstufen nicht zu erwarten. Neben den in diesem Bereich aufgetretenen Kommunikationsschwierigkeiten mit konzeptuellen und künstlerischen Ansätzen fand Ende der siebziger Jahre eine generell forcierte Abgrenzung zur Kunstszene statt und immer deutlicher wurde ”Fotografie als Fotografie”, nicht zuletzt im Schatten internationaler Entwicklungsströmungen, eingemahnt.
Ohne große Verzögerungen hatten die Inhalte der Kasseler Fotografie-Schau im Rahmen der documenta 6 (1977) Graz erreicht.7Vgl. dazu Klaus Honnef, Fotografie zwischen Authentizität und Fiktion, in: documenta 6, Bd. 2, Fotografie, Film, Video, Kassel 1977, S. 7 – 27 Dies umso leichter und effizienter, als die Fotogalerie im Forum Stadtpark rasch zum neuen, ebenso ambitionierten wie professionellen, Zentrum für Fotografie geworden war und in verstärktem Umfang internationale Kontakte pflegte und in den jährlichen Symposien über Fotografie – beginnend mit 1979 – einen österreichweit vielbeachteten theoretischen Überbau zur jüngeren Geschichte und zur Gegenwart der Fotografie lieferte. Dieser setzte sich im umfassenden Informations- und Publikationsanliegen der 1980 gegründeten Zeitschrift für Fotografie ”CAMERA AUSTRIA” (nun wirkte auch Christine Frisinghelli federführend im Fotoreferat des Forum Stadtpark) fort. Insgesamt hatte eine starke fotografische Emanzipationsbewegung eingesetzt, an der die Steiermark mit großem Selbstbewusstsein Anteil nahm. Unter dem Überbegriff der Autoren-Fotografie lief die Orientierung einerseits in eine explizit fotospezifische Richtung, andererseits sollte der Gestaltungsanteil der FotografInnen im Unterschied zur Berufs- und Amateurfotografie klargelegt werden. In einer Phase intensiver medienreflexiver Überlegungen schien die Abgrenzung zu künstlerischen Strategien, in denen das Foto-Bild oder die Lichtbild-Serie Gestaltungselement oder eines der Erkenntnisinstrumente war, notwendig. Die Besinnung auf den Gegenstand/die Gegenstände der Fotografie, auf das klassische Verhältnis von Objekt und Subjekt, auf die Konzentration des Sehens mit Hilfe des gewählten Bildausschnitts führte der Autorenfotografie neue Impulse zu. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war eine vitale Aufbruchsstimmung spürbar, die sich in vielfältigen Werkgruppen manifestierte und eine neue Generation von Autoren zum Vorschein brachte.
Eine der für die Grazer Szene wesentlichen Persönlichkeiten trat mit dem Japaner Seiichi Furuya (*1950 in Izu) hervor. Seit 1973 in Europa, stellte er 1980 erstmals im Forum aus und veröffentlichte ein Jahr später dort sein Portfolio ”AMS”. Furuya präsentierte die Live-Fotografie, aber auch die dokumentarische Reportage in neuer Frische und in professioneller Qualität. In der anschließenden fotografischen Produktion zog sich (und zieht sich bis heute) das Thema Grenze wie ein Leitfaden durch die Arbeiten, ohne diese dadurch in einen engen, vorher streng festgelegten, Raster hineinzupressen. Die Grenze: Das ist der Übergang vom Leben zum Tod, das waren die realen geografischen und politischen Grenzen Österreichs zu seinen östlichen Nachbarn, das war die geteilte Stadt Berlin, wo Furuya lange Jahre beruflich wirkte. Der ”Zuschnitt” der Bilder, die Furuya (sich) von der Wirklichkeit machte, ist semantisch derart determiniert, daß in ihnen Metamorphosen, Ausdrucksveränderungen, Realitätsverlagerungen, Veränderungen der Befindlichkeit ebenso enthalten sind wie Grenznähte der politischen, der organischen, der emotionalen Realität. Mit dieser steten und ernsthaften Arbeit an der Fotografie war er Vorbild für die Jüngeren, bestätigte seine eigene Generation und die vorangegangene, aus der Branko Lenart, Manfred Willmann, Helmut Tezak und Christian Wachter sowie Elisabeth Kraus, Richard Kratochwill und Erich Kees immer wieder an neuen Themenbereichen arbeiteten.
So stellte Branko Lenart, 1980 Artist in Residence am Apeiron workshop in Millerton (N. Y.), ein Jahr später sein Millerton-Projekt vor. In der 1200-Seelen-Gemeinde hatte Lenart (gemeinsam mit seiner Frau) eine sozial-dokumentarische, fotografische und textliche Bestandsaufnahme erarbeitet. In 220 Fotografien wurden 30 Familien mit unterschiedlichstem Sozialstatus porträtiert. Um die persönlichen Verhältnisse und die ganz normalen Lebensumstände ins Bild zu bringen, wählte Lenart einen ”leidenschaftslosen” Kamerablick, ergänzt durch knappe biografische Angaben. So entstand eine nüchterne, durch die eigentlich unspektakulären Inhalte dichte und geschlossene Gemeinde-Studie, bei der die Fotografie nicht inszenierendes Mittel der Recherche ist.
Manfred Willmann fokussierte stärker, insistierender als viele andere den privaten, den autobiografischen Bereich. Seine Serien ”Schwarz und Gold” (1979 – 81), ”Die Welt ist schön” (1981 – 83) und später ”Für Christine” (1984 – 88) konzentrierten sich sowohl in Schwarz-Weiß als auch in Farbe auf das Stillebenhafte in Ereignissen, Begegnungen oder zufälligen Entdeckungen. Kaleidoskopartig fügen sich Bilder zu Welt-Bildern. Bewußt unprätentiös in ihrer Einzelform umfassen sie auf einer Art Zwischenebene die fotografische Semantik als System der Objekterfahrung. Der große Beschreibungsbogen scheint immer wieder unterbrochen, abgehackt, zerstückelt. Das Leben scheint eingefroren, auf dokumentierte Augenblicke reduziert. Über diese ”Stills” erschließt sich exemplarisch das Einzelne, in seiner Selbstverständlichkeit ebenso wie in seiner Banalität. Aus der Summe des Einzelnen entsteht ein referentielles Ganzes, in dem die abbildhafte Diktion der Fotografie enthalten ist.
Diese Diktion setzte Richard Kratochwill (*1932 in Graz) für die Übermittlung eines gezielten Anliegens ein. In mehreren Serien bezog er sich auf die ”Ikonen des 20. Jahrhunderts”: die Ware als Objekt, ihre Präsentation als bestimmende ästhetische Folie der Urbanität. Von ausgeklügelten Standpunkten aus baute er jene Schnittflächen auf, an denen Wirklichkeit und deren Spiegelung in einem einzigen Bild aufeinandertrafen, an denen Sein und Schein ununterscheidbar wurden und das ”Sandwich” der Realität seine volle Üppigkeit entfaltete. In diesen Spiegelbildern der Imitationen und des Imaginären drohte die Wirklichkeit abhanden zu kommen, gerade weil sie in einer ihrer charakteristischen Erscheinungsformen anwesend war.
Auch unter den vielen Werkgruppen von Erich Kees (*1916 in Graz) finden sich in ”Thema Urbanes” und in den ”Irritationen” vom Anfang der 80er Jahre zumindest äußerlich vergleichbare Ansätze. Kees engte das Thema zwar nicht auf die Konsum-Welt ein, aber die architektonischen und visuellen Logos unserer Städte entfalten in den in jeder Dimension komprimierten Raumausschnitten jene bestimmende Vielfalt und Dichte, die durch die Wahl des Standpunktes wie eine inszenierte Substanz der alltäglichen Erfahrungswerte erscheinen. Grafische und strukturelle Phänomene an der Grenze von Bewegtem und Unbewegtem, Schattenspuren des Lichts und der Vergänglichkeit kehren an unterschiedlichen Motiven und mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen im Oeuvre von Erich Kees wieder.
Die subjektive Sicht, die eine Irritation der tradierten Wahrnehmung auslöst, stand und steht immer wieder im Mittelpunkt der Fotoserien von Elisabeth Kraus (*1940 in Graz). Ihre Sichtverfremdung lässt nicht nur einmal eine Ortsverlagerung vermuten. Aufgrund der realen Inszenierungen wird unter anderem der Authentizitätsanspruch der Fotografie relativiert und die Kategorie des ausschließlich Abbildhaften in Frage gestellt. Dennoch sind diese Vorgänge an das überlieferte Subjekt-Objekt-Verhältnis gekoppelt und unterbrechen diesen Regelkreis nicht.
Für Helmut Tezak (*1948 in Graz) war die ”Direkte Fotografie” nicht nur Selbstzweck, sondern ein komplexes Arbeitsfeld, das sich erst im intensiven Sehvorgang des Betrachters endgültig erfüllte. Vor allem die Serien ”Archi-Gschnas” (1982), ”Dakar – ein Foto-Essay über Masken und Rollen, Verhalten und Erwarten” (1983) sowie ”3 Orte. Papa? Was heißt heile Welt?” (1987) waren als ”Sehübungen” angelegt, in denen bildliche, oftmals nur einzelne formale Querverweise die scheinbar eindeutige Leserichtung unterbrachen und damit erweiterte Assoziationsfelder aufbauten. Tezak bediente sich dabei nicht einer konzeptuellen Methode, sondern vertraute ausschließlich auf eine sorgsam zusammengesetzte Bildstruktur, die durch einen langwierigen Selektionsprozess ihre letztendliche Gestalt erhielt. Unspektakuläre, aber aussagekräftige, dezidiert fotografische Anordnungen bildeten jene verfeinerte Methode, die der ”Reportage” eine neue Dimension eröffnete.
Helmut Tezak (1987) war neben Manfred Willmann (1983), Gerhard Pelko (1986), Erich Kees (1986) und Seiichi Furuya (1989) einer jener steirischen Fotografen, die nach der Einrichtung eines allerdings nicht selbständig dotierten Referates für Fotografie in der Neuen Galerie (betreut von Werner Fenz) – anlässlich der Übergabe des ”Landesförderungspreises für Fotografie in der Steiermark” an das Museum – mit Ausstellung und Katalog präsentiert worden waren. Auch der Aufbau einer Fotosammlung mit Schwerpunkt steirischer Fotografie wurde initiiert und in bescheidenem finanziellen Rahmen verwirklicht. Neben dem Altbestand mit einigen ”Künstlerfotografien”, darunter Urs Lüthi oder Jochen Gerz, bilden das Legat Alexander Stern, die Preisträgerarbeiten der Wettbewerbe seit 1981, einige wenige Ankäufe oder Geschenke von FotografInnen sowie seit Anfang der neunziger Jahre Leihgaben des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst aus der ”Österreichischen Fotogalerie” im Salzburger Rupertinum den Bestand. Mit der neuen Programmlinie seit 1993 wird gezielt am internationalen Ausbau dieser Sammlung gearbeitet. Durch die Unterstützung von privaten Sponsoren und der ”Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie” konnten wichtige Arbeiten von Dennis Adams, John Baldessari, Ken Lum und Martha Rosler angekauft und teilweise in der Sammlung ”Kunst der neunziger Jahre” präsentiert werden.
Von der jüngeren Generation steirischer FotografInnen, wie Harald Strobl, Peter Starchel, Gerhard Jurkovic, Ursula Wüst, die am Beginn der achtziger Jahre mit einigem Elan die Fotoszene bereicherten, zeigten sich Hermann Candussi oder Erich Lazar besonders ambitioniert.
Candussi (*1960 in Graz) suchte nach neuen Bildmustern und Ausdrucksmöglichkeiten, so zum Beispiel in seiner Serie ”Mit freundlicher Mitarbeit von …” (1983). Der Kamerastandpunkt war jener von Denkmälern und Büsten im Grazer Stadtpark, das erzeugte Bild deren ”Blickfeld” bzw. der Ausschnittswinkel des eingesetzten Objektivs. Mit diesem Arbeitsansatz griff Candussi das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis der Fotografie als Thema auf und kehrte es metaphorisch um, nicht ohne den Blick auf ein Objekt, substituiert durch ein anderes Subjekt, weiter fortzuschreiben. Die Gebundenheit des Systems wurde mit einfachen Mitteln zur Sprache gebracht.
Der in Salzburg wirkende Rainer Iglar (*1962 in Rottenmann), der dort am Aufbau der Galerie ”Fotohof” maßgeblich beteiligt war, überzog in einer seiner wesentlichen Werkgruppen die ”Natur” der Landschaft und der Zivilisation mit der Künstlichkeit des perfekten Stylings. So wird Wirklichkeit zur Unwirklichkeit stilisiert bzw. auf jenen fulminanten ästhetischen Standard erhoben, wie er uns aus der Reproduktion der Realität in Bildern immer geläufiger geworden ist.
Direkt auf den Menschen richtete Erich Lazar (*1959 in Graz), wie übrigens einige seiner Alterskollegen auch, die Kamera. Es war ein neuer Wirklichkeitsbegriff, den eine junge Generation aus einer verkrusteten, mit Symbolen oder dem augenblicklichen Festhalten von besonderen Ereignissen oder meditativen formalen Statements – überlegten, dichten Kompositionen – aufgeladenen fotografischen Realitätserfahrung auszufiltern suchte. Oft wurden nun nur mehr Bildfragmente, beiläufige Kamerastandpunkte zur Deklaration einer eigenen Wirklichkeit benötigt. ”Diese fotografische Welt ist nicht mehr Repräsentation, sondern individueller Entwurf, auch wenn sie bei Lazar spontan und wie absichtslos aus ’Neugier’ auf Welt und Mitmenschen den Familien- und Freundeskreis absucht, um mit der Kamera Leben und Intensität aufzuspüren. Daher kommen auch nicht außergewöhnliche Ereignisse ins Bild, sondern das alltägliche Miteinander und Durcheinander von Kindern, Tieren, Erwachsenen, Männern und Frauen bei Spiel, Freizeit, Geselligkeit, was manchmal auch mit Ritualen zu tun haben kann. Signum der Serie (”59 to 1”, 1985/86) ist ’Natürlichkeit’“.8Gisela Bartens, „Alle haben alles gesehen” und was machen wir jetzt?, in: Ausstellungskatalog. Stadtpark eins, Graz 1989, S. 35
Eine solche ”Natürlichkeit” war für Michael Schuster (*1956 in Graz) schon Ende der 70er Jahre nur als Teil eines festgefügten, sich immer wieder selbst reproduzierenden Systems zu begreifen. Damit brachte er in die Grazer Fotoszene, und weit darüber hinaus, neue medienreflexive Fragestellungen ein, die er mit Konsequenz weiterentwickelte, um die Mechanismen der Bildproduktion, die Räume der Fotografie und ihr industrialisiertes visuelles Potential zu vermessen. Gemeinsam mit Norbert Brunner führte er 1979 das Projekt ”Dokumentarische Dialektstudie vom Fersental bis Garmisch-Partenkirchen” durch, in dem ein streng vorgegebener Raster das Raum-Zeit-Schema der Fotografie aktivierte und ins Bewusstsein rückte. Anhand des Vaterunsers wurde in 24 Tagen, an 24 Orten der Sprachverlauf dokumentiert. Die fotografischen ”Einstellungen” waren von Anfang an fixiert: Eine automatische Kamera auf dem Kirchturm des jeweiligen Ortes machte eine Stunde lang alle zwei Minuten Aufnahmen vom Dorfplatz. Diese 30 Fotos waren von Ort zu Ort zeitlich verschoben (im Ort A von 1 – 2 Uhr, im Ort B von 2 – 3 Uhr usw.); ein Dorfplatzpanorama mit 10 Aufnahmen im Abstand von einer Minute; drei Aufnahmen in und im Umkreis der Kirche – vom Kirchturm in Richtung Osten, während des ”Vater unser” in Richtung Altar, ein Grabstein mit dem Familiennamen, der am häufigsten am Ortsfriedhof zu finden war; dazu ein handschriftlicher Text mit dem ”Vater unser” in Lautschrift. Damals schon hatte Schuster einen wesentlichen Begriff in den Mittelpunkt seines Interesses gerückt, das Bildherstellungsverfahren, und dieses als Topos gegen die geläufige illustrative fotografische Informationstradition gesetzt.
In noch deutlicherem Ausmaß schlugen sich Tendenzen, das System Fotografie ins Bild zu setzen in der 1980 erstmals präsentierten Arbeit ”Szene aus dem gleichnamigen Stück” nieder. Diese Serie aus Fotos, Installationen, reproduzierten Installationen sowie aus mehr als einem Dutzend Postkarten wurde gemeinsam mit Hartmut Skerbisch entwickelt, der an der Fotografie auch im Zusammenhang mit der Entwicklung eines neuen Skulpturbegriffs interessiert war. Das Faktum ”Alle haben alles gesehen” wird an den Ausgangspunkt von ”Szene aus dem gleichnamigen Stück” gestellt und verweist somit von Anfang an auf die Tatsache, daß diese Arbeit auf den Grundlagen eines notwendigerweise reflektierten neuen Medienverständnisses aufbaut. Es verweist auf den Zustand, ”daß, nicht mehr zu übersehen, eine Apparatewelt entstanden ist, die praktisch ohne unser Zutun alle nur möglichen Bilder der Welt registriert und in jeder nur möglichen Weise wiedergibt … beinahe schon so, als würde menschliches Bewußtsein dafür gar nicht mehr gebraucht werden. Das ist der Punkt, an dem ’Szene aus dem gleichnamigen Stück’ einsetzt.‘ Realer Beginn für dieses work in progress war die Fassade des Wiener Schauspielhauses, das für das Foto als Ankündigungsfläche für die Namen der Künstler und den Titel des Stücks (Szene aus dem gleichnamigen Stück) gestaltet worden war. In unzähligen Schritten minimaler Veränderungen und Erweiterungen, die unterschiedliche Präsentationsformen und das Hinzufügen weiterer Veröffentlichungsmomente, wie den von der TV-Sprecherin Eva Maria Klinger gesprochenen Satz ‚Szene aus dem gleichnamigen Stück‘, miteinschlossen, entstand eine fortwährende Verästelung mit den medienreflexiven Konstanten Selbstreferenz, Tautologie, Identität und Nichtidentität, Teil und Ganzes, Szene und Stück. In der präzisen und aufwendigen Anordnung ist trotz eines logistischen Kreislaufs, trotz der Abgeschlossenheit das Fragmentarische gegenüber den totalen Bildsystemen der Welt und ihren Herstellungsmaschinerien präsent. … Das Stück könnte solange spielen wie das reproduzierte fotografische Bild hält. Das Stück könnte einen englischen Untertitel tragen. Das Stück könnte im Bewußtsein des Betrachters spielen. Das Stück könnte von Michael Schuster/Hartmut Skerbisch sein. Das Stück könnte von Kodak sein.”9Michael Schuster, Hartmut Skerbisch, Szene aus dem gleichnamigen Stück, zitiert nach: Camera Austria 5/81, Graz, 1981, S. 17
Der Kodak-Farbkeil nimmt unter den weiteren Raum- und Serienarbeiten zur Fotografie im Oeuvre von Michael Schuster – dem wir noch mit einem exemplarischen Projekt im öffentlichen Raum begegnen werden – einen zentralen Platz ein. Mit der ”Amerika-Arbeit, Kodak-Urmeter in USA” wurde das Projekt 1993 abgeschlossen. Das einen halben Meter breite und zweieinhalb Meter hohe Siebdruckobjekt, ein blow up der originalen ”Kodak Color Control Patches” (K. C. C. P), wird aus dem Alltagsgebrauch zur Messung von Farbtreue für die Zwecke der Reproduktion herausgelöst und als objekthaftes Hilfsinstrument in den Landschaftsraum, eines der wesentlichsten Fotomotive, nach dem die Industrie ihre Amateur-Produktpalette ausrichtet, verfrachtet. Dort steht nun das fotografische Urmeter ebenso als Objekt vor der Kamera, wird ebenso zum Motiv wie die Landschaft selbst. Schuster hat alle Bundesstaaten der USA bereist und die einzelnen ”view points”, die ihm von den Tourismusverbänden genannt wurden, mit ”K. C. C. P.” als Bild im Bild fotografiert. Diese Arbeit, in der sich Fotografie als standardisierte Motivsuche und die Instrumentarien ihrer näheren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Positionsbestimmung überlagern, wurde mit Nachdruck auch als ”individueller Anschluß an die Land Art der späten sechziger und frühen siebziger Jahre” bezeichnet. 10Christian Fleck, Die Amerika-Arbeit, in: Michael Schuster, Oktagon-Verlag, München/Stuttgart 1993, S. 74 (Publikation nach der Ausstellung ”K. C. C. P.” im Museum Moderner Kunst Wien und in der Neuen Galerie Graz)
Auf einer vergleichsweise opulenten strukturellen Oberfläche führt Wilfried Mayrus (*1953 in Graz), der sich von Wien aus immer wieder konsequent unmittelbar in die hiesige Fotoszene einklinkt, einen ebenfalls über das einzelne Artefakt und eine enge fotografische Klassifizierung hinausreichenden Bilderdiskurs. So handelte etwa sein Projekt ”Inszenierte Fotografie – Aus der Sicht des Opfers” (1990) unter dem Thema ”Von der O-Kopie (Nullkopie)” von rezeptionsästhetischen Modellen der Realität: der Realität des Kunstwerks, der Realität im Kunstwerk, der Realität des Fotos, der Realität des Fotos des Kunstwerks und nicht zuletzt – im Katalog – der Realität der Reproduktion des Fotos des Kunstwerks. Mit Schlagschatten fotografierte Bilder malerisch/lichtbildnerischer Konsistenz vertreten die Gattung Fotografie, weil sie (Repro)Fotos im klassischen Sinn repräsentieren, die sich unabhängig von ihrer realen Beschaffenheit über das eingeübte Wahrnehmungsmuster der Schattenlinien als fotografische Produkte ausweisen.
Die Konfrontation zwischen ”Direkter Fotografie” und medienreflexiven Beiträgen, die schon seit Beginn der siebziger Jahre in Wellenbewegungen, aber auch mit Qualitätssprüngen diagnostiziert werden kann, bestimmt die steirische Fotoszene in einem weit höheren Ausmaß als andere regionale Zentren. Aus dieser Situation heraus, die ein experimentelles Ausloten fotografischer Möglichkeiten ebenso miteinschließt wie den gezielten und selbstverständlichen Einsatz der Fotografie als Transportmittel künstlerischer Ideen sind auch – wie zu zeigen war – einige international relevante Beiträge erwachsen.
Im Ineinanderwirken verschiedenster Auffassungen und in der Einflussnahme künstlerischer Methoden auf das fotografische Selbstverständnis sind wesentliche und typische Kriterien für eine weitere beispielhafte Bestandsaufnahme auszumachen. Claus Schöners Polaroid-Serien (z.B. ”Saigon: verdammte Scheiße” 1984) haben daran Anteil wie Friederike und Norbert Nestlers ”Körperprojektionen” (1980) oder Max Aufischers ”Wer MA sagt, muß auch X sagen” (1979 – 84). Heute rücken die spröden, mit vorgefundenem Material bestückten Tableaus sowie die Storyboard-Bilder von Klaus Schuster, die bewußt modisch-ästhetisch kalkulierten ”Reprografien” der Gruppe G. R. A. M., die ”anti-fotografischen” Arbeiten von Georg Held, der sich mehr auf die Gestaltqualität seiner minimalistischen Inszenierungen (zuletzt ”Golem”, 1995 in der Urania-Fotogalerie) verlässt als auf die Regeln der Fotografie oder die Professionalität seiner Kamera, die zurechtgeschnittenen, verschwommenen Kopf- und Objektformen von Eva Maria Ocherbauer, die ihre organisch-vegetabilischen Fragmente im Raum schweben lässt, die bunt/ kitschigen, meist computergenerierten Bildfolgen der jungen Auzinger/Burgstaller/ Bretter/Steiner in ein neugieriges Blickfeld.
Dieses war vom Künstlerpaar Horáková & Maurer (Tamara Horáková *1947 in Havlickuv Brod, Ewald Maurer *1947 in Fürstenfeld) gegen Ende der 80er Jahre, in jenem Moment, als die Autorenfotografie, die schon seit ihrer Initiation immer wieder durch bestehende oder sich ständig entwickelnde Phänomene ergänzt worden war,11z.B. ”Reflexion und Ausweitung des Mediums”, documenta VI, Kassel 1977 oder ”Erweiterte Fotografie”, Wien 1981 in eine Identitätskrise geriet, grundsätzlich neu – mit dem Schwerpunkt fotografischer Sichtweisen – entwickelt worden. Sie boten eine grundlegend neue, weitgehend fotografisch ausgerichtete Positionsbestimmung an.
Ihre aus einem präzise gefassten Kunstkontext entwickelten installativen Realisationen umfassten neue mediale Bildstrategien, die weder das konzeptuelle noch das autorenfotografische Moment in den Mittelpunkt stellten. Der Bezug zu einer gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit wurde über eine kunst- und medienreflexive Ebene hergestellt. In der Isolierung von Logos, ihrer Materialverfremdung, in ihrer ”Übersetzung” aus dem Realobjekt ins Bild oder umgekehrt, in den neuen Bildqualitäten der Transparenz, in der Farbsättigung als monochrome Flächen tauchen veränderte visuelle Bezüge auf, die eine veränderte und verändernde Dialektik des Artefakts herstellen. Anfangs war eine spezielle lichtempfindliche Emulsionsschicht, die auf jeden Bildträger aufgebracht werden konnte, Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Bildinformationen, die einer fragmentarischen Nachrichtenübermittlung entsprachen z. B. ”2 RUN” 1987 oder ”24 Clothes Pegs” 1988). Die Motive verbildlichten semantische Systeme der Geschichte wie der Gegenwart. Mit der Löschung des Bildinhalts bis auf den alphanumerischen Code der Farbzusammensetzung des Durantrans (”Elfenbeinküste” 1991)12Beitrag zum Projekt ”ArgusAuge” (Kurator Werner Fenz) am Königsplatz in München. Der Leuchtkasten basiert in zweieinhalbfacher Vergrößerung auf einem Buffet von Mies van der Rohe, das dieser für die Villa Tugendhat in Brünn (Brno) entworfen hatte. In die Kulisse des klassizistischen Platzes gestellt, referierte das Objekt auch auf Formen und Inhalte der umgebenden Architektur wurden die labortechnischen fotografischen Bedingungen bis an die Wurzeln der Produktion zurückverfolgt. Ein anderer als der hermetische Werkbegriff, tendenziell dem ”Offenen Kunstwerk” folgend, erlaubte es den beiden, die Fototeile des ursprünglichen Leuchtkastens, eben jene transparenten elfenbeinfarbenen Auszüge, in einen neuen, historisch verknüpfbaren Zusammenhang zu stellen: Als Einzelelemente im Verband weiterer objekthafter Anordnungen (redesignte Tische und Stühle von Mies van der Rohe) bezeichneten sie den großen Wohnraum der Villa Tugendhat des Avantgarde-Architekten der zwanziger Jahre und rückten dadurch eines der zentralen architektonischen Werke der klassischen Moderne wieder und neu ins Blickfeld.
Fototafeln mit Staub, Sperma und Blut (1992 – 95), Transparentfolien mit dem Fadenkreuz des ”Approx. center of image” (Deckblatt der Polaroidpackungen), 1992 für das Projekt KUNST HEIMAT KUNST auf eine Grazer Straßenbahn geklebt, sind weitere Bildwerke, die sowohl inhaltlich als auch formal in einem je größeren Zusammenhang stehen. In den großformatigen Fotobahnen ”Helles elektronisches Grün” oder ”Elektronisches Weiß” (1992) verweisen zigfache Vergrößerungen des elektronischen Testbildes auf die farbtechnischen und damit visuellen Grundlagen der heute wichtigsten Bilderzeugungsmaschinen.
”Champignons du Vietnam” (1992) bilden die Abwesenheit des Gegenstandes – ausgestanzte und herausgebrochene Micky-Mouse-Figuren – ab. Die Bedeutung und unmittelbare Wirkung dieser Arbeiten liegt in erster Linie darin, dass sie Fotografie nicht als eines der visuellen Ausdrucksmittel zur Durchsetzung konzeptueller oder kontextueller Strategien benützen, sondern dass das fotografische Bild selbst in seinen vielschichtigen Dimensionen Thema des Gestaltungsprozesses ist. Im Anspruch an die Fotografie, das eingeübte Abbildungsprozedere von Realität aufzulösen und statt dessen jene Wirklichkeit sichtbar zu machen, die uns heute als Design, als Warenästhetik, als Produktstandard, als historisches Kontinuum wie als gegenwärtiger Pool von Gebrauchswert, Form und Bedeutung umgibt, lösen Horáková&Maurer hohe kunstmediale Forderungen ein. Ihre bisherigen Antworten haben nicht nur die steirische Fotoszene beeinflusst und nachhaltige Wirkung gezeigt. Im Verein mit Michael Schuster und Matta Wagnest, die auch den fotografischen Bereich in ihre künstlerischen Methoden miteinbezieht, repräsentieren sie Positionen, die als Hintergrund weiter gefasster Mediendiskurse für die Fotografie einen gewichtigen Stellenwert ausmachen.
WERNER FENZ, STEIERMARK IM 20. JAHRHUNDERT: KUNST ZWISCHEN 1938 UND 1999, ORIGINALMANUSKRIPT, GRAZ 1999, 77 SEITEN.
DIESER TEXT, DER FÜR DIE PUBLIKATION STEFAN KARNER, DIE STEIERMARK IM 20.JAHRHUNDERT, STYRIA: GRAZ, WIEN KÖLN 2000 VERFASST WURDE, ERSCHIEN DORT NUR IN BRUCHSTÜCKHAFTER UND TEILWEISE DURCH DEN HERAUSGEBER STARK VERÄNDERTER BZW. ERGÄNZTER FORM OHNE ABSPRACHE MIT DEM AUTOR. HIER LIEGT DIE EINGEREICHTE ORIGINALFASSUNG VON TEIL 3, Fotografie und fotografische Konzeptionen, VOR
ABBILDUNGEN: NEUE GALERIE AM LANDESMUSEUM JOANNEUM, FORUM STADTPARK, KULTURREFERAT DER LANDESHAUPTSTADT GRAZ Kulturserver, Protokolle’76/2, Edition Camera Austria, Universalmuseum Joanneum Kunsthaus, Landesmuseum Joanneum Bild- und Tonarchiv, Galerie Edition Artelier, Akademiesche Druck- und Verlagsanstalt, Fotogalerie Wien, Edition Fotohof Salzburg
FOTOS: ARCHIV FENZ-KORTSCHAK
ORIGINAL-MANUSKRIPT: ARCHIV FENZ-KORTSCHAK
ZUM TEIL 1 DIE AUSSCHALTUNG DER MODERNE
Zum Teil 2 Künstlerische Vielfalt und Erweiterung des Kunstbegriffs
Zum Teil 4 Die Achtziger Jahre: „Hunger nach Bildern“ + Teil 5 Die neunziger Jahre: Neue Orinetierungen
↑1 | KRIEG. Österreichische Triennale zur Fotografie, Graz 1993. Veranstaltet vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst, durchgeführt von Werner Fenz (Neue Galerie) und Christine Frisinghelli (Forum Stadtpark) |
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↑2 | Erich. Kees, in: Ausstellungskatalog, Bregenz sehen Bregenz, Graz 1975, S. 34 |
↑3 | In den letzten Wochen kursierten Überlegungen durch die Medien, das daran gedacht sei, diesen Preis in Zukunft mit dem Kunstpreis zusammenzulegen |
↑4 | Otto Breicha, in: Ausstellungskatalog Kreative Fotografie in Österreich, Graz/Wien, 1974, S. 4 |
↑5 | Otto Breicha, op. cit., S. 4 |
↑6 | Peter Hoffmann, in: CAMERA AUSTRIA 14/84, Graz, 1984, S. 28 |
↑7 | Vgl. dazu Klaus Honnef, Fotografie zwischen Authentizität und Fiktion, in: documenta 6, Bd. 2, Fotografie, Film, Video, Kassel 1977, S. 7 – 27 |
↑8 | Gisela Bartens, „Alle haben alles gesehen” und was machen wir jetzt?, in: Ausstellungskatalog. Stadtpark eins, Graz 1989, S. 35 |
↑9 | Michael Schuster, Hartmut Skerbisch, Szene aus dem gleichnamigen Stück, zitiert nach: Camera Austria 5/81, Graz, 1981, S. 17 |
↑10 | Christian Fleck, Die Amerika-Arbeit, in: Michael Schuster, Oktagon-Verlag, München/Stuttgart 1993, S. 74 (Publikation nach der Ausstellung ”K. C. C. P.” im Museum Moderner Kunst Wien und in der Neuen Galerie Graz) |
↑11 | z.B. ”Reflexion und Ausweitung des Mediums”, documenta VI, Kassel 1977 oder ”Erweiterte Fotografie”, Wien 1981 |
↑12 | Beitrag zum Projekt ”ArgusAuge” (Kurator Werner Fenz) am Königsplatz in München. Der Leuchtkasten basiert in zweieinhalbfacher Vergrößerung auf einem Buffet von Mies van der Rohe, das dieser für die Villa Tugendhat in Brünn (Brno) entworfen hatte. In die Kulisse des klassizistischen Platzes gestellt, referierte das Objekt auch auf Formen und Inhalte der umgebenden Architektur |