Anstelle eines Bildungsromans

Anstelle eines  Bildungsromans

Anmerkungen aus der Kunst- und Kommunikationspraxis

Dorit Magreiter Katalogumschlag, Bildung, Grazer Kunstverein, steirischer herbst 99, 1999, Ausschnitt

Dorit Magreiter Katalogumschlag, Bildung, Grazer Kunstverein, steirischer herbst 99, 1999, Ausschnitt

Erstes Kapitel: Kunstszenen

#1  Abendöffnung in der Sammlung Essl in Klosterneuburg. Elegant gekleidete Damen und Herren, über die mittleren Jahre weit hinaus, lauschen andächtig den Ausführungen der Hausfrau. Weitere Gruppen werden von Führerinnen und Führern schlagwortartig mit den Intentionen der (österreichischen) Malerei vertraut gemacht. Eine junge Frau im glitzernden „Kleinen Schwarzen“ spricht ihre Befindlichkeit nach einer halben Stunde Führung unverblümt aus: Jetzt habe sie bereits einen Kulturschock. Im obersten Geschoß ist die Video-Installation von Valie Export nicht zu finden; sie hat den festlich gedeckten Tischen für ein Galadiner Platz machen müssen. Im Veranstaltungsraum des Museums gibt der Sohn des Hauses für einen weiteren Teil der zahllosen Gäste ein Konzert.

Ein Abend des Bildungsbürgertums.

#2  Im Landhaushof in Graz wird die Eröffnung der diesjährigen Großausstellung „Paul Gauguin – Von der Bretagne nach Tahiti“ zelebriert. Großbildprojektionen, Rezitationen aus seiner Autobiografie. Gauguin und van Gogh treten, vom Absinthgenuss schwankend, auf die Bühne und diskutieren über Farbe und Licht. Can-Can-Tänzerinnen sorgen für optischen Schwung bis endlich die Mädchen aus Tahiti, mit Blütenkränzen über ihren nackten Brüsten, den beiden Malern zuwinken und van Gogh seinen Freund auffordert, nicht länger zu warten und der Einladung zu folgen. Ein Blumenmeer ergießt sich über den bis auf den letzten Platz gefüllten Hof, von den Arkaden strömt ein pyrotechnischer Wasserfall, die Ausstellung wird als die bisher größte Gauguin-Schau der Welt im Bewusstsein der Gäste verankert.

Ein Abend des medienreflektorischen Show-Business.

#3  Irgendwo. Mit unglaublicher Dreistigkeit, weil mit öffentlichen Geldern, wurde nach vielen Jahren wieder eine künstlerische Installation im Stadtraum errichtet. Genau dort, wo Tausende täglich vorüber kommen, weil sie müssen: Berufswege, Einkäufe etc. Da baut sich nun dieses Ding auf, von dem man – man erinnert sich jetzt – gelesen hat, wie viel Geld, das man anderswo dringend benötigen würde, gekostet hat. Es stehen sich drei Gruppen gegenüber: Fünf Personen sind stehen geblieben und lassen ihrem Unmut freien Lauf, drei weitere wollten eigentlich, weil eilig, vorbei, finden aber akustisch ihre Meinung, die sie sich schon gestern, als vor dem Ding Stehende gebildet hatten, bestätigt, und stimmen in das kollektive Wehklagen ein. Eine Person , bisher unbeachtet, ist mit dem Hinweis auf einige in der Nähe stehende Müllcontainer der Meinung, verschandelt würde der Platz durch das Kunstwerk eigentlich nicht. Die Gruppierung reduziert sich auf zwei Parteien. Die größere Zahl, das sind nun acht, lässt sich von der Verschandelungstheorie – natürlich durch das Kunstwerk – nicht abbringen, die kleinste mögliche Zahl votiert gegen die Stadtmöbel und für das – unbestritten – ungewöhnliche künstlerische Objekt.

Ein alltäglicher Konflikt zwischen der nicht ortsgeschützten Kunst und ihren Adressaten.

#4  Irgendwo in Österreich. Die Installation, zum Beispiel keine abstrakte Skulptur, nimmt in einer bestimmten Form Bezug auf die Stadtgeschichte, die auf der politischen Ebene nicht immer geradlinig positiv verlaufen ist. Die Betrachter-Parteien nehmen das fremde Zeichen unter all den vertrauten der schön renovierten Altstadt zum Anlass, ihre persönlichen Meinungen, historischen Informationen und politischen Ansichten auszutauschen. Es wird heftig, die unsäglichen oder geschmäcklerischen Stadtmöblierungen spielen keine Rolle mehr. Die Stadt-Führerin, ihre Stunde wäre gekommen, kann (oder will) sich kein Gehör verschaffen. Sie wird noch längere Zeit auf ihr Stichwort warten (müssen).

Eine intensive Kommunikation zwischen den Adressaten, ausgelöst durch die nicht ortsgeschützte Kunst.

Zweites Kapitel: Die Gesellschaft

An den Terminals am Arbeitsplatz oder zuhause fließt der Datenstrom der Informationsgesellschaft Tag und Nacht. Bilder, Texte und Tabellen sind jederzeit abrufbar, jede Minute ist ein Downloading von Wissen möglich. Der virtuell aufgetürmte Berg an Informationen stellt jede Bücherwand in den Schatten. Potemkinschen Bücherbänden, mit Goldrand in Meterware als dekorative Repräsentationsfalle hergestellt, könnte eine potemkinsche Hardware entsprechen. Doch selbst, wenn der Input vorhanden ist, stellt sich die Frage nach seiner Verarbeitung. Dient er als Instrument ausschließlich den beruflichen Standards, der Freizeitbeschäftigung Surfen, der Unterhaltung auf technologisch-industrieller Basis?
Der Datenstrom der Informationsgesellschaft scheint die klassische Bildung in scharfem Tempo zu überholen und wirft entweder die Frage nach Begriffsrelikten oder die nach einer möglicherweise notwendigen Adaptierung im Rahmen eines tief greifenden Strukturwandels auf. Innerhalb der digitalen Netzwerke von Information und Kommunikation steht der Bildungsbegriff mehr denn je in grellem Kontrast zur Wissensanhäufung durch verlinkbare Fakten aus den lokalen oder globalen Datenbanken. Auch die Kunst steht vor der Notwendigkeit, sich innerhalb der veränderten gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen, neuerdings auch politischen, Bedingungen zu positionieren.

Auf den ersten Blick scheint sich die Schere zwischen den „entgesellschaftlichen“ Kunstprodukten Malerei, Skulptur, Objekt und den der Informationsgesellschaft systemkonformen Netzwerk-Künstlern oder den Software-Spezialisten für virtuelle Wirklichkeit zu öffnen. Für die Rezeptionsebene bedeutet dies auf der einen Seite zumeist Kennerschaft und/oder Repräsentationsgenuss vor Kunstwerken und beim Ausstellungsbesuch, auf der anderen Seite, ein grundsätzliches Interesse an der Kreativität im Umgang mit neuen Tools. An diesem vom einen Scherenschenkel markierten Punkt gestehen – die Akzeptanz vorausgesetzt – die Rezipienten der Kunst, zumindest was das Instrumentarium und den Werkbegriff betrifft, mögliche oder notwendige Veränderungen zu. Vergleichbare entscheidende Veränderungen in der Kunstlandschaft sind aber spätestens seit den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts auch außerhalb einer technologisch-medial konfigurierten Kunst zu verfolgen. Ins Zentrum dieser Entwicklung rückte mehr und mehr die künstlerische Markierung von Interfaces innerhalb der in allen Bereichen forcierten systemischen Weltsicht und Handlungspraxis. Mit dem Ziel, auf der Basis einer gesellschaftlich relevanten Grammatik Formulierungen zu entwickeln, sind besonders im letzten Jahrzehnt künstlerische Ergebnisse in unterschiedlichen Modi entstanden. Eine noch zulässige Vereinfachung kann als gemeinsames Ziel das Angebot, innerhalb der zahlreichen Schnittstellen und normierten Netzwerkknoten Orientierung als wie immer materiell beschaffenes Produkt zu schaffen, festmachen. Bei dieser Vorgangsweise werden in erster Linie Thema, Konzept und künstlerische Realisation auf ein Bezugssystem ausgerichtet, das nicht dem traditionellen künstlerischen Kanon, sondern der „wirklichen Wirklichkeit“ verpflichtet ist.

Damit klinken sich diese künstlerischen Strömungen in eine übergeordnete aktuelle informationelle Struktur derart ein, dass sie auf das Sichtbarmachen von Zusammenhängen abzielen und diese inhaltlich und formal verarbeiten. Auf dieser Ebene reklamiert die Kunst mit Startvorteil gegenüber anderen kulturellen Sektoren ihre gesellschaftliche Relevanz und dementiert ihre eindimensionale Zuordnung zum dekorativen und repräsentativen „interesselosen Wohlgefallen“. Wer einen solchen Ansatz des Herstellens von Bezugssystemen als Negativform didaktisch nennt und auf die so genannte Autonomie der klassischen Moderne verweist, übersieht auf der einen Seite die wichtigsten Positionen der abendländischen Kunstgeschichte von der frühchristlichen Kunst über das Barock bis hin zum französischen Klassizismus und auf der anderen Seite die Chance, der Wissensgesellschaft ein notwendiges Korrektiv – nicht auf der Basis von Abwendung, sondern von Zuwendung – gegenüberzustellen.

Drittes Kapitel: Die Kommunikation

Jede Form, künstlerische Objekte auszustellen oder anzuordnen, prozesshafte Kunststrategien und deren Ergebnisse zu veröffentlichen ist per se ein Vermittlungsakt. Verantwortliche für Museen und künstlerische Großveranstaltungen beeilen sich heute aus Überzeugung oder unter dem Druck der Publikumserwartungen, diesen Vermittlungsakt durch weitere Vermittlungsakte (Texte, FührerIn, Kassettenrecorder, Handy) zu begleiten. Es ist nicht der Anlass, hier über bessere oder schlechtere, wirksamere und weniger wirksame Vermittlungs-„Strategien“ nachzudenken oder zu referieren: Die grundsätzliche Notwendigkeit, das Kommunikationsprofil der Kunst zu verstärken, steht mit der Blickrichtung auf Bildung im Mittelpunkt des Interesses.

Der heute zentrale Begriff Kommunikation kann und will Bildung im klassischen Sinn ebenso wenig ersetzen wie dies der viel strapazierten Vermittlung gelingt. Wird im Museum, einst als Forschungs- und Bildungsanstalt gegründet, Kunst oder Bildung vermittelt, kann neben der Kunst (oder einem anderen Museumsgegenstand) auch Bildung kommuniziert werden? Sind die Vermittler oder Kommunikatoren gebildet oder aus/gebildet?

Die Aufgabe der Vermittler auf allen möglichen Funktionsebenen besteht nicht darin, Kunst kommunikationsfähig zu machen, da jede künstlerische Äußerung und Handlung durch eine kommunikative Komponente bestimmt ist, sondern in der Praxis zu kommunizieren. Aus diesem Grund haben sich die Bemühungen derer, die Vermittlungsarbeit als systemimmanente Notwendigkeit betrachten, auf zwei Stoßrichtungen zu konzentrieren: zum einen auf die Richtung, den Kommunikationsprozess der Kunst dort zu profilieren, wo das Selbstverständnis dieser Tatsache noch nicht entsprechend entwickelt wurde, zum anderen auf jene, im Grundsätzlichen noch bedeutendere, Richtung, die deutlich macht, dass Kunst nicht nur Freizeitbeschäftigung von Bildungsbürgern ist, sondern ein gravierender Bestandteil der kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Systeme, die heute nur mehr durch künstlerische Zeichensetzungen sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden können.

Vermittlung ist nicht darauf festgelegt, in jenem Modus zu funktionieren, der Kenntnis gegen Unkenntnis setzt, sondern ist angehalten, Erkenntnis über den Austausch zwischen den Parteien, den Produzenten von Ideen und den Rezipienten der daraus entwickelten sichtbaren Spur, in ihre Praxis zu übernehmen. Vermittlung ist über das bloße Anliegen, Kunst begreifbar zu machen, dem Projekt Kunst darin ähnlich, dass sie über sich selbst und ihre Methoden ebenso dynamisch reflektiert wie über den Gegenstand, den sie vermittelt. Sie wird zu einem permanenten Forschungsprojekt und ist dabei Sender und Tuner zugleich. Diesen auch der Kunst mehr und mehr zugewachsenen Anspruch, der vor allem am Beginn des neuen Jahrtausends entsprechend ausdifferenziert werden muss, gilt es also in erster Linie zu vermitteln, ohne damit die persönliche Befindlichkeit des Einzelnen vor Kunstwerken gering zu schätzen oder in einem hoch gesteckten Theoriegebäude gar vollständig auszuklammern.

Doch die Praxis zeigt, dass die Begegnung mit Kunst in einer dem gesamten Phänomen gegenüber unverantwortlichen Weise auf der Ebene des breiten Publikums meist immer noch auf den subjektiven Geschmack, auf der Ebene der Galeristen, Sammler und vieler Ausstellungsleiter auf so genannte Kennerschaft reduziert wird. Das heißt in keiner Weise, dass das Qualitätsbewusstsein ausgeklammert werden soll, das heißt aber, dass dieses von den oft einzig gültigen Parametern der Intuition, der Beherrschung des Werkstoffes oder dem Rekurs auf modische Tendenzen freizuspielen ist, und Qualitäten neu vermessen werden müssen. Diese und der Raster, auf dem die Bedeutung des künstlerischen Prozesses und dessen lesbares Ergebnis eingetragen ist, müssen ebenfalls zentrales Anliegen der Vermittlung sein. Dies gilt besonders für jene Grammatik, die Kunstinterventionen der letzten 30 Jahre zugrunde liegt und die durch ein nicht mehr als absolut in Anspruch genommenes Differenzierungsgefälle zu ästhetischen Zeichen des Alltags, vom Design bis hin zur Wissenschaft, charakterisiert ist. Dieses Kunstwerk, dieses künstlerische Handeln tritt bewusst diesen Zeichensystemen und Handlungsstrukturen gegenüber. Es rekurriert nicht mehr auf formale kunstimmanente Entwicklungskriterien – wie etwa die klassische abstrahierte oder reduzierte Gestalt -, sondern greift konkret und mit Überzeugung gewisse Substanzen und strukturelle Kriterien der Wirklichkeit in Dialogform auf, um daraus über eine veränderte Matrix den Anspruch auf die Wirklichkeit der Kunst zu formulieren.

Diesen Veränderungen auf der inhaltlichen wie systemischen Ebene der Kunst muss sich die Vermittlung stellen. Ihre Aufgabe besteht weder darin, in erster Linie Anleitungen zu meditativer Zwiesprache mit dem Kunstwerk zu geben, noch vordringlich als messbares Ergebnis Brechts „kleinen Kreis der Kenner in einen großen zu erweitern.“

Vermitteln heißt, immer wieder aufs Neue den Dialog über Kunst im gesellschaftlichen Raum in Gang zu setzen und das Kommunikationsprofil der Kunst zu schärfen. Nur über die Kunst ist es unter bestimmten Voraussetzungen und verbunden mit bestimmten, vorhin skizzierten, Kunst-Haltungen möglich, die gewaltigen Informationspotenziale zu strukturieren und in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Dadurch kann die Urteilskraft der Rezipienten gestärkt und deren Kompetenzen können weit über künstlerische Prozesse hinaus als soziale und gesellschaftliche Bildungsprozesse erweitert werden.

Werner Fenz, Anstelle eines Bildungsromans. Vortrag im RAhmen der Veranstaltung: Bildung Information, Kommunikation und Didaktik in der zeitgenössischen bildenden Kunst: steirischer herbst 99, Grazer Kunstverein, Graz 1999
Abbildung: Grazer Kunstverein
Fotos: Archiv Fenz-Kortschak
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