Wien um 1900

Wien um 1900

Kolo Moser, Umschlag für Heft 2, Ver Sacrum, Bd. I, 1898

Kolo Moser, Umschlag für Heft 2, Ver Sacrum, Bd. I, 1898

Die Gründung der Secession, die Herausgabe der Zeitschrift „Ver Sacrum“ und die Einrichtung der „Wiener Werkstätte“ sicherten Wien um 1900 zunächst in Anschluß an das internationale Kunstgeschehen und in der Folge eine solide, auf manchen Gebieten sogar führende Position innerhalb der neuen Tendenzen am Beginn unseres Jahrhunderts.

Als sich am 3. April 1897 die Vereinigung bildender Künstler Österreichs Secession durch Austritt aus dem Wiener Künstlerhaus konstituiert hatte, war noch nicht abzusehen, daß Secession  zu einer Stilbezeichnung im Rahmen des internationalen Jugendstils werden sollte. Die Gründungsmitglieder, unter ihnen Klimt, Hoffmann, Moser, Roller u.a. hatten den Wunsch eigene Ausstellungen zu veranstalten – was ihnen auch auf Anhieb mit einer internationalen Schau mit großem Erfolg gelang – und gegen den müde gewordenen Kunstbetrieb in der Kaiserstadt zu Felde zu ziehen- Es ging den Secessionisten nicht darum, an die Stelle der alten Kunst eine neue zu setzen, wie es der leidenschaftliche Chronist der jungen Wiener Künstlergeneration Ludwig Hevesi formulierte, sondern um das Recht, überhaupt künstlerisch zu schaffen, um gegen die bisher vorhandenen „Bettler und Hausierer“ anzukämpfen. Zweifellos war ein nicht in eine Ausstellung aufgenommenes Bild von Josef Engelhart nicht mehr als der zündende Funke, der den Austritt der 19 Gründungsmitglieder der neuen Künstlervereinigung aus dem Künstlerhaus bewirkte.

Anstöße aus dem Ausland, die Münchner und Berliner Secession, und vor allem die Tatsache, daß das Künstlerhaus Zentrum der Ringstraßenzeit, des Historismus, gewesen war, bieten sich als wahre Gründe für das Entstehen der neuen Vereinigung an. Die Verachtung für das Kopieren vergangener Stile, das auch am k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie gepflegt wurde, war groß. Ale neue Quellen sollten die umfassende Information über die internationale Kunst und vor allem die Natur dienen. Von Stil war in den Anfängen der Secession noch nicht die Rede. Das war auch glaubhaft da die verschiedensten  künstlerischen Temperamente in der jungen Gruppe vereinigt waren und der greise Rudolf von Alt, vor allem als Maler und Zeichner  Wiener Stadtmotive bekannt, zum Ehrenpräsidenten der Secession gewählt wurde. Erster amtierender Präsident war Gustav Klimt. Die Künstlerpersönlichkeit Klimt – der einzige wirkliche Jugendstilmaler – war stärker als man bisher bemerkte dem Secessionskreis  verbunden und von ihm geprägt. Das gilt vor allem für die stark dekorativ ausgerichteten Künstler wie Hoffmann, Moser, Roller etc., vereinsintern auch „Stilisten“ genannt. Diese Grafiker und Kunstgewerbler waren es schließlich auch, die der Secession ihren eigenwilligen und unverwechselbaren Charakter verliehen. Das bedeutet aber auch, daß sich sehr bald innerhalb einer Vereinigung, die zunächst sosehr gegen Stil ankämpfte, ein eigener Stil auszubilden begann.

Eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung eines eigenen Stils- als unverwechselbarer Wiener Secessionismus innerhalb des internationalen Jugendstils ausgeprägt – spielte die Zeitschrift „Ver Sacrum“. Angeregt durch Kunst- und Künstlerzeitschriften aus dem Ausland erschein sie erstmals ab 1898 in monatlicher Folge. Sie war nicht so exklusiv wie der einem Literatenkreis entsprungene „Pan“ in Berlin, aber auch keineswegs so volkstümlich wie die Münchner „Jugend“, eine „Zeitschrift für Kunst und Leben“. Außerdem  hatte „Ver Sacrum“ als Mitteilungsblatt einer Künstlervereinigung von vornherein besondere Aufgaben zu erfüllen. Die Rolle der Zeitschrift um 1900 kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Einerseits sorgte sie überhaupt für die rasche Verbreitung der künstlerischen Impulse der Zeit, andererseits war die Zeitschrift selbst – besonders im Falle einer Künstlerzeitschrift – Objekt der Gestaltung und Träger der neuen grafischen Dekorationskunst. In vereinfachter Form, könnte man sagen, verkörperte sie auch die Idee des Gesamtkunstwerks, das die Jugendstilkünstler als großes Ziel vor Augen hatten.

Die einheitliche Gestaltung einer Buchseite, die William Morris schon im 19. Jahrhundert angeregt hatte, galt es nun mit dem neuen Dekorationselementen zu verwirklichen. Wenn man die Entwicklung der Wiener Jugendstilgrafik überblickt, so kann man ohne Mühe feststellen, daß die Tendenz in Richtung Vereinheitlichung der Buchseite lief. War vor allem der erste Jahrgang von  „Ver Sacrum“ vollgestopft mit einzelnen buchgrafischen Elementen, Vignetten, Randleisten, Ziermustern, die oft unvermittelt an die Textspalten herangeschoben worden waren und im Endeffekt fast den Eindruck eines Musterbuches hervorriefen, so setzte später eine immer stärker werdende Reduktion der Mittel ein. Auch die Annäherung der einzelnen Ornamente und Schmuckformen an den Bildträger, das zweidimensionale Blatt, und damit auch an die zweidimensionale Schrift weisen in diese Richtung. Aus der stilisierten Buchillustration mit Raumbühne und Bezug der Figuren zum Raum wurde allmählich in den besten Fällen der rein flächige Buchschmuck, der das Schriftbild in die Gestaltung miteinbezog und in einigen Fällen die Schrift in den Dekorationsfluß mitriß: die kaum noch lesbare Secessionsschrift war geboren. Mit der Abbildung reiner Flächenformen, die von der Zeitschrift in alle Gebiete der Gebrauchsgrafik einfloß, war eine wesentlich Konsequenz in der neuen Dekorationskunst erreicht worden. Im Falle von  „Ver Sacrum“ und der Wiener Secession bedeutete  dies, da hier sehr einfallsreiche Grafiker am Werke waren, daß das Dekorative, die Anwendbarkeit solcher neuer Formen an Einfluß auf die Richtung der neuen Künstlervereinigung gewannen. Das schönste Beispiel gesamtheitlicher Gestaltung des Wiener Kreises war schließlich das Palais Stoclet in Brüssel, von Josef Hoffmann erbaut, von der Wiener Werkstätte eingerichtet, der Fries im Speisesaal von Gustav Klimt gestaltet.

In den sechs Jahrgängen des „Ver Sacrum“ läßt sich aber auch die spezifische Eigenart der Wiener Grafiker ablesen. Waren es anfangs noch deutliche Einflüsse aus der englischen Buchgrafik – Stilisieren der Figuren und Ihr Beziehungssetzen  zum Bildraum – und deutliche Übernahmen aus dem Bereich des floralen deutschen Jugendstils, so zeigte sich etwa ab der Jahrhundertwende die Eigenständlichkeit der Wiener Schmuckformen. Vor allem Kolo Moser und Josef Hoffmann haben versucht, an die Stelle der Linearität die Flächigkeit und die Klarheit der Detailformen zu setzen. Die beiden kreierten den geometrischen Schmuckstil, den Kolo Moser in der „Blechschmiede“ von Arno Holz (V. S. 1901) konsequent zum typografischen Buchschmuck weiter entwickelt. Knapp nach 1900 war der Wiener Secessionismus als eigene Richtung ausgeprägt und begann die ausländische Kunst, vor allem die des benachbarten Deutschland, zu beeinflussen.

Die Ferment-Rolle der neuen Zeitschrift wäre ungenügend beschrieben, wenn nicht auch die literarischen Beiträge in ihr erwähnt würden. Durch einen leidenschaftlichen Förderer aber auch Kritiker des Secession, Hermann Bahr, war die Verbindung zum Kreis Jung-Wien hergestellt. Aber auch Beiträge von Hugo von Hofmannsthal, Ferdinand von Saar, Rainer Maria Rilke, Richard von Schaukal und vom schon zitierten Arno Holz wurden neben kritischen und engagierten Artikeln über die Situation der Kunst in „Ver Sacrum“ aufgenommen. Nach sechsjährigem Erscheinen hatte die Wiener Zeitschrift offensichtlich ihre Rolle erfüllt und wurde eingestellt.

Die Allroundkünstler Hoffmann und Moser wandten sich nun einem neuen Projekt zu, dessen Verwirklichung dann ebenso deutlich wie die Herausgabe der Zeitschrift die geistig-künstlerischen Wurzeln der Zeit berührt. Nach Kontaktnahme mit schottischen Künstlerkollegen anläßlich einer Ausstellung in Wien, die den Glasgow Four, die Ehepaare Macintosh und McNAir, großen Erfolg gebracht hatte, entstand gemeinsam mit dem Geldgeber Fritz Wärndorfer die „Wiener Werkstätte“. Während der Erbauer des Secessionsgebäudes, Joseph Maria Olbrich, nach Darmstadt in ein  bedeutendes Zentrum der Jugendstilkunst, abgewandert war, fanden Moser neben seiner Tätigkeit als Professor an der Kunstgewerbeschule und Hoffmann neben seinen Bauprojekten in der Wiener Werkstätte einen großen Aufgabenbereich vor. Der Grundgedanke war, einen Betrieb zu schaffen, in dem der Künstler als Entwerfer tätig ist und ein geschulter Handwerker die Ausführung der Gegenstände übernimmt. Signiert wurden die Stücke von beiden gemeinsam. Es war eine Kampfansage an die Industrieproduktion. Doch auch auf diesem Gebiet konnten die Widersprüche, die die Zeit um 1900 begleiten – oder sollte man besser von der Polarität „Finale und Auftakt“ oder Finde Siecle und Beginn einer neuen Zeit sprechen? – nicht restlos aufgelöst werden. Der Gedanke durchgestaltete „Kunst für Alle“ kreiste auch um die neue Wiener Werkstätte und prallte auf die durch besonders kostbares Material erzeugte Exklusivität der Kunstgegenstände. Die formalen Konzeptionen scheinen teilweise modernes Bauhaus-Design vorwegzunehmen, vor allem in den ersten drei Jahren, als nur Hoffmann und Moser für die Entwürfe verantwortlich waren. Besteck, Gläser und Kannen werden materialgerecht und nach dem Gesichtspunkt ihrer Funktionen gestaltet. Dazwischen aber tragen Möbel im geometrischen Kistenstil dekorative Einlegearbeiten in bester Jugendstilgesinnung. Auch wenn Kolo Moser eine Zimmereinrichtung auf jene Stickerei abstimmt, die die Jungvermählte von ihrer Mutter als Hochzeitsgeschenk mitbekommen hat, wird Tribut an jene sensiblen Gefühlbezüge gezollt, die ein wesentliches Element  der Jugendstilgeneration ausmachen.

Mit dem Eintritt von neuen Künstlern, Dagobert Peche, Otto Prutscher, Ernst Wimmer und einigen Schülerinnen der Kunstgewerbeschule, ändern sich die hergestellten Gegenstände schlagartig. Auch Josef Hoffmann gerät unter den Einfluß einer neuen dekorativen Welle innerhalb der Wiener Werkstätte, seine konzipierten Formen nehmen fast barocken Charakter an. Trotz mehrmaliger Krisen baut das Unternehmen Filialen bis in die USA auf und trägt das Wiener Kunstgewerbe in viele Teile der Welt bis zur endgültigen Auflösung 1932.

Kole Moser war aus privaten Gründen schon 1906 ausgeschieden, ein Jahr nach dem spektakulären Austritt der Klimt-Gruppe aus der Secession. Ursache für diesen Schritt der bekanntesten Wiener Secessionisten war der schonetwas länger schwelende Streit zwischen „Stilisten und Nichtstilisten“. „Stilisten“ das waren eben jene vorwiegend dekorativ orientierten Künstler, die auch Bilder einem Gesamtrahmen unterordnen wollten. Letztlich zerbrach die erste Secession an der Tatsache, daß sie gegen den Stil in der Kunst angetreten war (Historismus) und sehr bald wieder einen ganz ausgeprägten Stil schaffte. Doch die Impulse, die die Wiener Secession zum Aufbruch aus dem 19. Jahrhundert gegeben hat, waren nicht mehr zu zerstören. Sie wurden von einer jüngeren Generation aufgegriffen, jedoch in eine andere Richtung weiter verfolgt.

Nirgends geht die Ablösung des Jugendstils durch den Expressionismus so kontinuierlich vor sich wie in Wien. Künstler wie Kokoschka und Schiele wachsen direkt aus dem Kreis um Klimt oder der Wiener Werkstätte hervor. Noch einmal traf sich die Klimt-Gruppe bei der 1908 veranstalteten großen Kunstschau. Hier fand für den Besucher sichtbar die Wachablöse durch die Zukunft bestimmenden Künstler statt. Während ein Kolo Moser noch in bester buchgrafischer Tradition die Jubiläumsmarken für Kaiser Franz Josef entwarf, trat Oskar Kokoschka mit seine ersten Künstlerpostkarten im Verlag der Wiener Werkstätte und seine Publikation „Die Träumenden Knaben“ hervor, schuf Egon Schiele ebenfalls für die Wiener Werkstätte Postkarten  und „zitierte“ genauso wie der radikale Richard Gerstl Bilder von Klimt, sei es im Format, ein einer fast ironisierenden Auflösung dekorativer Schmuckformen in die Aggressivität eines neuen Pinselstriches oder in der Thematik der Erfüllung durch Umarmung (Klimt, Der Kuß 1908) in das Erschrockene der beobachteten Zuneigung (Egon Schiele, Der Kardinal und die Nonne 1912). Der Übergang von der unverbindlichen Dekoration und leicht schwülen Stimmungsmalerei  in die verbindlichen und bestimmten Farbflächen, in die derbe, zwingende Offenherzigkeit war vollzogen.

MANUSKRIPT ZU: WERNER FENZ, Wien um 1900, IN: Kunst in Österreich 1900 -1930, Kunstmuseum Luzern, in Zusammenarbeit mit der Neuen Galerie am LANDESMUSeUM JOANNEUM GRAZ, AUSSTELLUNGSKATALOG, Luzern 1974,  O. S.
ABBILDUNGEN: ARCHIV FENZ-KORTSCHAK
FOTOS: ARCHIV FENZ-KORTSCHAK