„Kunsthose“ im neuen Schnitt
Heute feiern sie in aller Ruhe ihr zweites Artifest, vor zehn Jahren sorgte ihr Auszug aus der Sezession für Aufregung und Hektik in der „Szene“, für ein Rauschen im sonst eher windstillen sommerlichen Blätterwald der steirischen Tageszeitungen: Was hat die „Knöpfe am Hosentürl der steirischen Kunsthose“ (Gottfried Fabian) zu ihrem Dissidententum bewogen? Welche Entwicklung hat die „Gruppe 77“ in einem Jahrzehnt genommen? Es steht fest, dass es schon einige Zeit vor dem 7.7.77, vor jenem Tag, an dem die vereinspolizeiliche Anmeldung erfolgte, in der altehrwürdigen Sezession gärte. Die Ziele und Ideale der 1923 gegründeten Vereinigung, mit der die Moderne in der Steiermark ihren Einzug hielt, schienen für eiern starke Gruppe, den auch künstlerisch „harten“ Kern, endgültig und unwiderruflich in Frage gestellt. „Speziell seit zwei Jahren wird die bei der Gründung der Sezession geschaffene Zielsetzung der Weiterentwicklung der Moderne bewußt abgewürgt. Darum diese neue Initiative nach alten Zielsetzungen“, formulierte es der Köflacher Maler und Grafiker Franz Roupec, dessen eigene Entwicklung mit dieser programmatischen Aussage ständig konform ging. Den „77ern“ war es in der Sezession zu stickig geworden. Alte Bande und Freundschaften wie etwa zu dem künstlerisch gleichgesinnten, aber sezessionstreuen Fritz Aduatz wurden aufs Spiel gesetzt, um wieder frischen Wind hineinzublasen, wo die Luft längst heraußen war. Die einzige möglich hieß: eine Sezession der Sezession. Beim „Kogelweber“ nahe Edelschrott auf der Pack stellten die Gründungsmittglieder die Weichen für die Zukunft. Jetzt sollten die Geleise wieder in die Richtung der „Förderung des zeitgenössischen Kunstschaffens, der Beobachtung internationaler Tendenzen und ihrer Vermittlung an die Öffentlichkeit“ führen. Hochgesteckte Ziele, die ihre Wirkung auf die Kunstöffentlichkeit beim ersten gemeinsamen Auftreten in Graz (Galerie Klement) nicht verfehlten: man/Frau ging „77er“ schauen und sah den Wald vor lauter Bäumen nicht. Der Andrang, die Aufregung, das Interesse überraschen uns auch heute nicht, wo wir die Entwicklung mit sehr viel Distanz betrachten können. Zuletzt zog knapp zwei Jahrzehnte zuvor mit der Gründung des Forums Stadtpark ein Ereignis in der Künstlerszene das Publikum in etwa vergleichbarem Ausmaß in den Bann. Damals wie in der Rückschau gewinnen allerdings auch die Unterschiede zwischen den beiden Neugründungen Konturen: War das „Forum“ ein Aufbruch von Literaten, Künstlern, Architekten und Musikern, die sich, auch mit dem Buschmesser, einen neuen Weg durch die traditionelle und reaktionäre Kunstlandschaft suchten, markierte die „Gruppe 77“ ausgefahrene, vom Trott (zu) vieler Spaziergänger abgegraste Routen um, damit sich wieder das lang vermisste, nicht immer nur leichtfüßig zu bewältigende Wandererlebnis einstellen möge.
Freilich übte auch der Umstand, dass es sich bei den „Abtrünnigen“ unter anderem um arrivierte Vertreter der steirischen Nachkriegskunst handelte – so zum Beispiel Vevean Oviette, Gottfried Fabian und Rudolf Pointner – eine beträchtliche Anziehungskraft aus. Es ging also nicht um einen ungestümen Kraftakt der jüngeren, sondern um wohlüberlegte Schritte der älteren und mittleren Generation, die ihre Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber der fortschreitenden künstlerischen Entwicklung nachhaltig demonstrierte. Gewiss in erste Linie aus Verantwortung ihrer eigenen künstlerischen Handlung gegenüber, aber nicht zuletzt als Wegweiser für die nachfolgenden Generationen. Deren Entfaltungsmöglichkeiten waren einem Gottfried Fabian und einer Vevean Oviette, ohne Kompromissbereitschaft, im eigenen Werk, stets ein großes Anliegen. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgten beide das Ausstellungsgeschehen über den Rahmen der eigenen Vereinigung hinaus, spürten Qualitäten auf und förderten auch dort, wo der künstlerische Ansatz sich weit vom persönlichen entfernte. Gerhard Lojen hat sich die Offenheit seines Lehrers Kurt Weber erhalten und ermuntert dort, wo es seine Qualitätskriterien zulassen, in kollegialer Weise. Dieses Klima der Toleranz machte auch vor den anderes gearteten Schmuckobjekten eines Wolfgang Rahs, den Licht-Ton-Skulpturen eines Klaus Reisinger oder den „Bildsäcken“ eines Gustav Troger nicht halt. Im Gegenteil. Es belebte, ermunterte, kontrastierte die jeweils eigene Position, die in den neuen Konstellationen manche Schärfe dazugewann. In ihren künstlerischen Äußerungen weist die „Gruppe 77“ heute ein breites Spektrum auf. Fünf markante Persönlichkeiten mussten allerdings Pinsel oder Zeichenstift zu früh aus der Hand legen. Mit den gestischen Spuren eines Gottfried Fabian, den formenstrengen Kompositionen einer Vevean Oviette, den malerisch wie grafisch gleichermaßen ausgewogenen Gestaltungen eines Franz Roupec, den subtile Bildflächen des Hans Bischoffshausen und den temperamentvollen Strukturen des Johann Fruhmann sind gewiss bedeutende Facetten der über den steirischen Kunstraum hinauswirkenden Kunst der klassischen Avantgarde in ihrer Kontinuität versiegt. Wie sie nehmen aber heute noch die Generationen der Fünfzig-, Vierzig- und Dreißigjährigen, markante Einzelpositionen ein. Sie entwickeln ihren Ansatz aus einem lebendigen Dialog mit der gegenwärtigen Kunst ihrer Zeit, ohne einem Diktat, einem Trend zu folgen oder als Gruppe einen Stil zu bilden. Gemeinsames wird nicht in Form und Inhalt sichtbar, sondern in Reflexionen über künstlerische Gesinnung, über die Bedeutung des Setzens von Zeichen, die zu Klischees und beliebiger Reproduzierbarkeit deutlich auf Distanz gehen. Man sollte die Aktion „Stille“ aus dem Jahr 1979 ebenso unter diesen kategorialen Anspruch subsumieren wie die „Linie als gemeinsames“ (die künstlerische Ausgestaltung eines Autobahnparkplatzes auf der A 2). Mehrfache gemeinsame Auftritte in Wien (Galerie Insam, Secession) und Plakataktionen im sommerlichen Graz führten Qualität und Originalität der Mitglieder jeweils vor Augen.
Ein Jahrzehnt im Leben einer Künstlergruppe ist nicht nur Anlass Bilanz zu ziehen, sondern gleichermaßen Projekte und Visionen in der Zukunft anzuvisieren. Es wird heute, in nahezu allen Bereichen, immer schwieriger, individuelle und kollektive Ansprüche ohne Werteverlust in eine sinnvolle Übereinstimmung zu bringen. Die „77er“ haben den Elan ihres Aufbruchs weit in die achtziger Jahre herübergezogen. Als jüngste Grazer Künstlervereinigung waren ihre Impulse in der Kunstszene ständig präsent. Freilich darf man nicht übersehen, dass zuletzt bedeutende Ausstellungen in Genf, Linz oder Villach nur mehr von aktiveren Kleingruppen bestritten wurden, dass der Anspruch auf neue, intensivierte Formen der Kunstvermittlung über interessante Ansätze nicht hinausreichte, dass etwa mit Doris Jauk-Hinz, Erwin Talker, Hans Kuhness, Stefan Maitz, Alois Neuhold, Hans Jandl und Helmuth Nager, die künstlerische Blutauffrischung ihren bisherigen Höhepunkt erfahren hat. Sicherlich ist auch die Gemeinschaft aus Künstlern (vor allem so bewährten wie Edith Temmel, Fria Elfen, Dietmar Kiffmann, Richard Hirschbaeck, Klaus Reisinger, von so wandlungsfähigen wie Ferdinand Penker und Gerhard Lojen), aus Galeristen (so ambitionierten wie Rosemarie und Walter Eder) und aus Kritikern (so einflussreichen wie Emil Breisach und Herbert Nichols) in ihrem Wirkungsradius ausbaufähig. Wenn man, wie ich, der Meinung ist, dass Kunstvereine, die nicht nur ihre jährlichen Vereinstermine pflichtgemäß wahrnehmen, imstande sind, das geistige Klima eines Raumes zu befruchten, dann sollte aus dem Artifest auf jeden Fall ein Festwerden, das sich mit dem wohlverdienten Lorbeer der Ars schmückt.
Aber ein Manifest, den erreichten künstlerischen und organisatorischen Standard nicht nur zu halten, sondern vielgestaltig konkret und utopisch auszubauen, darf nach der seinerzeitigen Radikalkur der Gesundung wohl mit Selbstverständlichkeit und in guter Hoffnung für die Zukunft gefordert werden.