Jochen Gerz, ICH SIGFRIED UIBERREITHER LANDESHAUPTMANN, Graz 2008
OHNE EUCH WÄRE ICH NICHT SIGFRIED UIBERREITHER GEWORDEN.
Einstimmig wurde im Landtag Steiermark und in der Landesregierung beschlossen, ein künstlerisches Zeichen zur Erinnerung an den Missbrauch der Macht auf Regierungsebene in der Zeit des Nationalsozialismus in Auftrag zu geben. Da die ersten politischen Überlegungen in Richtung einer Gedenktafel liefen, später jedoch in Wortmeldungen und Debatten erweitert wurden, hat Jochen Gerz, der mit diesem Projekt beauftragt wurde, seine Arbeit in zwei Teilen angelegt.
Im ersten Teil reflektierte er den Gedenktafel-Typus und wandte sich mit dieser Idee unmittelbar einem der zentralen Orte des Geschehens, dem damaligen und dem heutigen Sitz des Landeshauptmanns, zu. Die bestimmende Figur, ausgestattet mit einer Fülle an Macht, war nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich Sigfried Uiberreither (1908-1984). Mit seinen Funktionen als Landeshauptmann, Gauleiter und Reichsstatthalter von Steiermark besaß er enorme Entscheidungsgewalt, die er auch entsprechend ausübte. Nach dem Ende des Nazi-Terrors gelang es Uiberreither, sich der Verurteilung und Auslieferung nach Jugoslawien, wo er zum Tode verurteilt worden wäre, durch Flucht zu entziehen. Er nahm unter dem Namen Friedrich Schönharting eine neue Identität an und arbeitete bis zum Beginn der 1960er Jahre in einer Kühlmaschinenfirma in Sindelfingen (D), später bei der Deutschen Bundesbahn. Mit einer von der steirischen Zeitschrift korso 1 http://korso.at/content/view/3151/214/index.html veröffentlichten Recherche wurde Jochen Gerz konfrontiert und reagierte darauf in mehrfacher Weise:
Die „Erinnerungstafel“ mutierte zur Inschrift, der darin verwendete Text zu mehreren an die Passanten und Passantinnen gestellten Fragen, der Ort verabschiedete sich von der für gewöhnlich üblichen Wand und verschob sich zu einem der zentralen Bögen des mittelalterlichen Burgtors.Die Fragen, die formatfüllend und daher unübersehbar niedergeschrieben sind, stellt Uiberreither selbst. Ein nationalsozialistischer Täter fordert sozusagen im Vorübergehen die Menschen auf, hellhörig zu sein in Bezug auf die Gegenwart wie auf die Vergangenheit. Die Komplizenschaft wird angesprochen, das Schweigen der anderen, der Mehrheit nicht nur damals in der Zeit der Verbrechen, sondern auch danach. „OHNE EUCH“, heißt es, „WÄRE ICH NICHT SIGFRIED UIBERREITHER GEWORDEN.“ Bereits diese erweiterte und übersetzte Form der Gedenktafel – sie wurde im Dezember 2008 der Öffentlichkeit übergeben – kann als beispielhaft nicht nur für die Steiermark bezeichnet werden.
Parallel dazu hat sich Gerz dem zweiten und weit umfangreicheren Teil seines Konzepts für Graz, das zu einem Konzept für die Steiermark wurde, zugewendet. Es ist eine in der Gegenwart verankerte Erinnerungsarbeit von Jochen Gerz mit der Öffentlichkeit. Die dafür eingesetzte Plattform ist die Kleine Zeitung mit ihren Lesern und Leserinnen und deren Autorenschaft wie auch der von WissenschafterInnen und PolitikerInnen. Im Frühjahr 2010 wird die Arbeit mit Bild- und Textobjekten an 24 Orten in der Steiermark abgeschlossen sein.
Der entscheidende Anteil von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz an einer radikalen Veränderung des Denkmalbegriffs konnte bereits mehrfach beispielhaft begründet werden. Heute setzt sich Jochen Gerz nicht nur in Graz mit Arbeiten an und mit der Öffentlichkeit auseinander. In Bochum entsteht seit 2007 Der Platz des europäischen Versprechens. Dieses „work in progress“-Konzept wird aus Anlass der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010 durchgeführt. Die Bewohner der Stadt, des Ruhrgebiets und die Bürger Europas sind eingeladen, ihren Namen in den Platz einzuschreiben und diesen Akt mit einem geheimen Versprechen für Europa zu verbinden. Ausgangspunkt für diese Arbeit waren zwei unmittelbar in der Nähe, in der 1931 errichteten Helden-Gedenkhalle, befindliche Namenslisten: eine Aufzählung der im Ersten Weltkrieg gefallenen Bochumer sowie die ebenfalls aufgelisteten „Feindstaaten Deutschlands“. Nicht nur die Nachbarn gehören dieser Liste an, sondern auch die Sowjetunion und die USA. „Diese prophetische Liste nimmt den Zweiten Weltkrieg vorweg und die Zerstörung Europas“ (Gerz). In Bochum wird mit großer Beteiligung an einer dritten Aufzählung von Namen gearbeitet, den Namen der Lebenden.
Im Programm 2-3 Straßen in Dortmund, Duisburg und Mülheim an der Ruhr, das ebenfalls zurzeit auf der „Werkliste“ von Jochen Gerz steht, lädt der Künstler Kreative und Kulturschaffende ein, drei Jahre lang mietfrei zu wohnen und an einem einzigen umfassenden Text – einem Tagebuch der gelebten Metropole Ruhr – mitzuschreiben. An diesem Beispiel zeigt sich, dass für Gerz, wie für andere KünstlerInnen auch, sich der Werkbegriff in der Art und Weise verändert hat, dass es nicht mehr von Bedeutung ist, ob der „Kunstcharakter“ eines Projekts in den Vordergrund tritt, sondern dass, immer öfter, auch ein sich auf den ersten Blick von Alltagsrealitäten scheinbar nicht unterscheidendes Handeln im Anspruch der Kunstschaffenden, auf diverse Wirklichkeiten zu reagieren, enthalten sein kann.
Manuskript zu: Werner Fenz, OHNE EUCH WÄRE ICH NICHT SIGFRIED UIBERREITHER GEWORDEN, in: Werner Fenz, Evelyn Kraus, Birgit Kulterer (Hrsg.), Kunst im öffentlichen Raum Steiermark. Projekte 2007-2008 / Art in Public Space Styria. Projects 2007-2008. 344 Seiten, deutsch/englisch, Springer Wien/New York, 2010, S. 273-283.
Abbildungen. Institut für Kunst im öffentlichen raum Steiermark, Archiv Fenz-Kortschak
Fotos: Marcus Auer / colourspace
Publikation
↑1 | http://korso.at/content/view/3151/214/index.html |
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