Gunther Skreiner, Short Stories
Künstlerische Feldforschungen als Ausdruck der Vielgestalt eines Systems
Sobald die Leinwand durch eine erste Formentscheidung zu einem regelmäßigen weißen Feld geworden ist, entscheidet der Künstler / die Künstlerin, in welcher Weise dieses behandelte oder unbehandelte Trägermaterial zum Projektionsschirm des Abbildens, des Darstellens, des Spurenaufnehmens oder des Gegenstandes einer reflexiven bis kritischen Untersuchung werden soll.
Die Präsenz des Malerischen hat sich, unschwer nachvollziehbar, in einem hohen Ausmaß sowie in radikalen Handlungen und Taten entwickelt und verändert. Es sei in einem äußerst unvollständigen Protokoll an die ersten expressiv motivierten Abstraktionen (Kandinsky) ebenso erinnert wie an die harmonisierende geometrische Flächen- und Farbaufteilung, die sich die Bezeichnung Konkrete Malerei erst mühsam und mit scharfen Worten erkämpfen musste (Mondrian), vom Nullpunkt der Malerei im Schwarzen Quadrat auf weißem Grund des Kasimir Malewitsch ganz abgesehen. Mit diesen Ergebnissen schien der Höhepunkt der radikalen Zugriffe auf das klassische Medium erreicht. Dass ein Maler im Bild stehen und mit einem Stab Farbe in Richtung des auf dem Boden liegenden Textils schleudern (Pollock), dass eine randlos blaue Pigmentierung der Leinwand und deren Verwandlung in einen Raum der immateriellen Sensibilität erfolgen würde (Klein) oder gar der aggressive Angriff und die dadurch hervorgerufene Zerstörung des auf einem Rahmen aufgespannten Bildgrundes (Fontana), war zuvor nicht vorstellbar, aber auch in der Zeit dieser Handlungen selbst nur schwer verdaulich. Und dennoch waren es die entscheidenden Aktionen, die das malerische Bild nicht nur am Leben erhielten, sondern immer wieder neu in den Blickpunkt des Interesses rückten.
Im Angesicht einer scheinbar unendlichen Zahl von Spezialisierungen innerhalb des von kritischen Stimmen gern als „malerisches Gewerbe“ bezeichneten Felds war auch ein zahlenmäßig nicht eben schwach bestückter Widerstand gegenüber derart dezidierten Veränderungen vorhanden, die in einer anderen Leseart nicht selten als Auswüchse tituliert wurden. Dass es sogar einer auf hohem Niveau stehenden Malerei hin und wieder an den zu lang und zu eng geschnürten Kragen ging, lag an neuen Themen, an erweiterten Interessensfeldern, an gezielten Fragestellungen an das Phänomen, das künstlerisches Potenzial geheißen hat und im übrigen heute noch so genannt und unter diesem Aspekt beobachtet wird, wenn auch immer häufiger erweitert durch eine Reflexion zum Arbeitsumfeld, konkret zum Gesellschaftsraum: Ihm aktiv anzugehören, daran lassen mehr und mehr KünstlerInnen keinen Zweifel aufkommen.
Falsch wäre es, nun den Kurzschluss herzustellen, die Malerei habe seither „ausgespielt“, grundsätzlich und weil sie von ihrer medialen Konstruktion her nicht in der Lage sei, an Debatten zu aktuellen Themen teilzunehmen. Nicht nur Andreas Siekmann oder Dierk Schmidt belehren uns eines Besseren. Die Frage in unserem Zusammenhang stellt sich, wenn von neuen Interessenfeldern die Rede ist, allerdings nicht einseitig in Richtung einer politisch ausgerichteten oder konkret kapitalismuskritischen Kunst. Es handelt sich vielmehr darum, ob Malerei oder Zeichnung ausschließlich oder mehrheitlich traditionellen Parametern folgen kann, was gegenwärtig auch der Fall wäre, wenn sie sich zum Beispiel auf die Spuren der Erneuerer der 1950er und 1960er Jahre begeben und in weiteren Variationen die Grenzen des Leinwandbildes aufzeigen würde.
In der aktuellen Werkgruppe von Gunther Skreiner stehen wir Bildern gegenüber, die auf einer bisher einzigartigen Ebene dem Thema des Malerischen – das heißt nach allen strengen Regeln der Kunst nicht unbedingt der Malerei – einen neuen Stempel aufdrücken. Bereits seit Jahrzehnten hat sich der steirische Künstler sehr eigensinnig mit Methoden, in der zweiten Dimension präzise Konzepte zu verwirklichen, auseinandergesetzt. Für kaum jemand war auf den ersten Blick die festgefügte strukturelle Basis zu erkennen. Fest zu stehen schien lediglich, dass die Bilder zwar nichts mit Abbildungs-, dennoch mit Darstellungsmodi zu tun hatten. So konnte man sich beispielsweise auch in einer eher flüchtigen Rezeption den strengen linearen Kompositionen mit den unterschiedlichen Strichrichtungen und den daraus gebildeten Linienformen quasi als Beleg für ein konstruktives künstlerisches Weltbild nicht entziehen. Aus heutiger Sicht setzte die vorerst vorsichtige, letztendlich jedoch entscheidende Auseinandersetzung mit Skreiners nicht unbedingt auf der unmittelbaren Begegnungsebene angesiedeltem strengem System in dem Moment ein, in dem, scheinbar unmotiviert die bisher so klaren Erscheinungsformen über Bord werfend, ausgeprägte gegenstandslose malerische Gestaltungen die Leinwände bedeckten. Von da an bestimmte ein hoch interessanter und nicht ohne Leidenschaften geführter Diskurs über Konzept und Realisation und über die Auswirkungen dieser beiden Pole der künstlerischen Arbeit die Wahrnehmung und darüber hinaus im kunsttheoretischen Kontext die Positionierung des Werks. Jetzt trat das mit dem Bild verbundene, nicht mehr auszublendende Strukturdenken, in welcher Form sich darin die Grundidee auch äußerte, auf den Plan der Bewertung.
Wie war dieser fliegende Wechsel vom konstruktivistischen Kompositionstypus zum expressiv-malerischen möglich, ohne dabei ein Grundprinzip zu verlassen? Und warum klammert sich Skreiner an ein solches? Diese zentrale Frage bestimmt seine Kunst, die er aus beruflichen Gründen zwischen 1990 und 2005 ruhend gestellt hat, im Speziellen wie seinen Kunstbegriff im Allgemeinen. Verschiedene Entscheidungsparameter spielen dabei eine zentrale Rolle: Der wesentlichste gründet im dringenden Wunsch, ein objektives Fundament zu errichten, das trotz seiner Strenge – oder gerade deswegen – eine große Bandbreite von Möglichkeiten der visuellen Umsetzung erlaubt. Seit gut drei Jahrzehnten existiert dieses Fundament auf der Ausgangs- und Hintergrundebene. Es handelt sich dabei um übereinander gelegte Raster, die durch ihre Verknüpfung miteinander Positionsbestimmungen auf der Fläche vornehmen. Diese gelten gleichermaßen für die Leerstellen wie für die in welcher Art auch immer ausgeführten Zeichen. Das dafür selbst geschriebene Computerprogramm ist das grundlegende Ordnungsprinzip und somit zugleich der strikt eingehaltene Kompositionsraster. Anfangs lieferte dieser die Markierungspunkte, die in Summe ein komplexes, aber unverrückbares Prinzip verkörperten: Sie wurden, wie erwähnt, mit Tuschelinien oder mit üppigen Farblagen besetzt. Beide Extreme fanden als sichtbar gemachte „Befüllung“ Platz im System, mehr noch: Sie waren das sichtbar gemachte System. Im Mittelpunkt steht dabei, mit einem enormen zeitlichen Aktualitätsschub versehen, der obsessive Wunsch, den konzeptuellen und inhaltlichen Fokus auf die abstrakte Reinheit des methodischen Ansatzes und auf die daraus abgeleitete „vielstimmige“ Materialisierung, also auf zwei scheinbare Gegensätze, richten zu können. Durch die klare Abgrenzung ist es möglich, wesentliche Komponenten künstlerischer Gestaltung, die Komposition und die zeichenhafte Umsetzung, vorzuführen und damit die künstlerische Handlung quasi zu dekonstruieren, mit dem Ziel, entscheidende Abfolgen und Konsequenzen aufzuzeigen. Die eingesetzten Mittel und Methoden reichen in ihrer Bedeutung weit über die scheinbar dominierende Computersprache hinaus und führen weit hinein in naturwissenschaftliche wie in geisteswissenschaftliche Räume und diesen inhärenten Thesen und Theorien. Die Vielfalt an Möglichkeiten, die auf einem errechneten Strukturgerüst aufbauen und dadurch fassbar und darstellbar werden, findet in den künstlerischen Beispielen ein beeindruckendes und überzeugendes Äquivalent, durch die rasche und immer dichter werdende Entwicklung aber nicht seinen definitiven Abschluss. In Weiterführung der dadurch ausgelösten Denkprozesse führt die Schleife zurück: mitten hinein in unterschiedliche Alltagsprozesse, die einen ähnlichen Ursprung besitzen und vergleichbare Auswirkungen, was die Vielfalt der Möglichkeiten betrifft, aufweisen.
Short stories bietet uns Skreiner in seiner jüngsten, kaum zwei Jahre alten, Werkgruppe an. Die rund 15 Quadratmeter großen Bilder eröffnen den Blick auf einen nun bunt „bevölkerten“ Flächenraum. Erstmals – und dieser Schritt ist über das eigene Œuvre hinaus in Form und Inhalt bemerkenswert – treten Figurationen an die Stelle eines vom System geleiteten linearen oder farbkräftigen malerischen Duktus. Bemerkenswert ist dieser Schritt deshalb, weil dem Figürlichen, selbst in Situationen, in denen eine Referenz auf mediale Erscheinungsbilder (Pop Art) nachzuweisen ist, der systemische Zugang vollkommen unbekannt ist. In den short stories scheint auf den ersten Blick eine Fülle von unterschiedlichsten Motiven auf der Leinwand ausgebreitet zu sein. Nach und nach nehmen Gruppierungen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, verbunden mit der Erfahrung von Leerräumen. Die eingesetzten Positionierungen ziehen die weiteren Blicke einerseits auf das Erkunden möglicher Zusammengehörigkeiten, andererseits auf die einzelnen Elemente der Gestaltung. Dann fallen rasch zwei Charakteristika ins Gewicht: Auch ein Überfliegen des Bildraums lässt uns Bekanntes, ja sogar Vertrautes – je nach der Biografie der BetrachterInnen – erkennen. Ob es sich dabei um arabische Schriftzeichen, um die Künstlerin Valie Export oder die Pop-Ikone Madonna, um viel verwendete Logos, einen Alltagsgegenstand, um den Dalai Lama oder den steirischen Dichter Peter Rosegger handelt – die „Symbole“ repräsentieren einen identen Herstellungsvorgang auf ihrem Weg ins Bild. Aus allen nur denkbaren Speichern und Archiven zusammengestellt, werden sie vier Symbolfamilien zugeordnet sowie den beiden Störgruppen Frauen und Männer. Auf diesen Pool greift das von Skreiner geschriebene, in den Anordnungsachsen gedrehte und durch Überlagerungen bestimmte Computerprogramm zu. Mit den auf den genannten Prinzipien gründenden Entscheidungen zieht sich der Künstler aus dem Gestaltungsprozess, den er wesentlich strukturiert hat, so gut wie zurück. Nun ist der Vorgang, die ausgebreiteten Möglichkeiten innerhalb des aufgestellten und herbeigeführten Angebots der Formen und Farbe zu nutzen, indem sie in eine nach außen gestülpte Komposition übergeführt werden, der Maschine überlassen. Diese Abmachung wird eingehalten und kommt in erster Linie an dem Punkt zum Tragen, an dem keinerlei Eingriffe in die ausgearbeitete Bildgestaltung erfolgen. So kommt es, dass der Künstler zwar der Anreger und Einfädler der short stories ist, die „Erzählung“ jedoch unter keinen Umständen beeinflusst. Nun liegt es an den BetrachterInnen, ob sie die Texte lesen und als Alltagsgeschichten aus dem unermesslichen Archiv der Zeichen identifizieren können.
Die Informationen weisen jenen formalen und inhaltlichen Status auf, der sie aus der gewaltsamen Vereinnahmung durch surrealistischen Prinzipien nahestehenden Gestaltungsmustern überzeugend freispielt. Vielmehr handelt es sich um einen nahezu unüberschaubaren Bilderatlas, der paradigmatisch sowohl für die Menge als auch für die Qualität der an uns übertragenen Nachrichten steht. Diese umfassen in der Alltagsrealität alle Gebiete, im Kunstkonzept der aktuellen Werkgruppe sind sie auf „Personen, wissenschaftliche, religiöse, okkulte, politische Zeichen, auf Körperhaltungen, Blicke, Gesten, Worte etc.“ konzentriert. Das errechnete Zusammentreffen der Zeichen in einer Story, ihre Anzahl (mindestens zwei, maximal fünf) innerhalb der Koordinaten zwischen leeren und mit Formen besetzten Stellen, die farbige Erscheinung, Pixel für Pixel aus den zugeordneten Pools (z.B. violett für die Frauen, die sich im linken Teil der Komposition befinden und braun für die rechts auftretenden Männer usw.) automatisch zusammengesetzt – all diese auf Grundlagen und Prinzipien gestützten und schließlich gerechneten Entscheidungen bestimmen die malerische Bildkomposition, die digital auf die Leinwand aufgebracht wird.
Das zugrunde gelegte Programm, die immer weiter ausgearbeitete Struktur und die grundsätzlich beibehaltenen, aber geschärften prinzipiellen Entscheidungen signalisieren durch die Wahl der neuen Zeichenfamilien eine drastische Wende. Zunächst könnte man von einem erwachten Interesse an Kultur- und Gesellschaftsräumen sprechen und verblüfft darüber sein, wie sich ein aus diesem Bereich gewähltes, im Detail klares, in der Zuordnung hingegen sowohl fragmentiertes als auch verschlüsseltes Repertoire mit den geschilderten Kompositionsmechanismen verknüpfen lässt. Aber auch umgekehrt überrascht, dass ein in vielen Formen erprobtes System dem optischen und inhaltlichen Zustand der Informationsgesellschaft in einem derart schlüssigen Ausmaß gerecht wird. Selbst die eingesetzten technischen Mittel des Bild- und Kompositionsaufbaus verkörpern in ihrem additiven System der Herstellung von grundsätzlicher wie konkreter Bildinformation den aktuellen Status der Ordnung und Orientierung. Nicht das Abstrakte oder das Konkrete, das hat Skreiner als analytisch geschulter Künstler erkannt, nehmen im aktuellen Diskurs die Schlüsselrolle ein, sondern das bildhaft Anschauliche, das aus Bausteinen Zusammengesetzte, das aus Modulen Vernetzte. Dasselbe Gestaltungsprinzip findet sich auch in den jüngst komponierten und in die Ausstellungsinstallation einbezogenen Ton-Bildern. Und dennoch birgt der Verweis auf die mehr als dreißig Jahre lange Beschäftigung mit einer prinzipiellen Bildkonstruktion eine über anschauliche aktuelle Reflexionen hinaus weisende prinzipielle Komponente: Ein konzeptuell gefestigter Zugang zu Zeichnung und Malerei vermag sich die Entscheidungen über die bildhaften Erscheinungen offen zu halten und die Kunst in immer neue Fragestellungen zu verstricken. Da ist dann nicht mehr der Stil, die alte oder neue Heftigkeit des Pinselstrichs, die aus der Farbe und dem Duktus auftauchende Beschreibung des Gegenübers das Maß aller (guten oder schlechten) Dinge. Es geht um das Erkennen und Umsetzen des Prinzips künstlerischer Gestaltung, die in den hier vorliegenden Beispielen die lokalen Parameter hinter sich lässt und sich an internationalen Maßstäben orientiert.