Günter Waldorf – Nachruf
Die Wände, Günter, die für eine der Ausstellungen, die wir gemeinsam, damals noch in der Neuen Galerie, aufgebaut haben, waren sauber weiß gestrichen. Wir waren gerade in Diskussion, in welcher Höhe, auf welcher Linie die Bilder platziert werden sollen. Da bist du plötzlich aus der Diskussion ausgeschert und bist mit langsamen, fast zögerlichen Schritten aufmerksam durch die Ausstellungsräume gegangen.
Du hast zwischendurch zum Fenster, auf die Fassade vom Kastner & Öhler hinausgeschaut und ich konnte mir deinen Rückzug aus dem Gespräch nicht erklären. Vielleicht hast du Distanz gesucht, einen Abstand gebraucht: Auch intensives Rätseln hat bei mir kein Ergebnis erbracht. Also ging ich in eine behutsame Offensive: Stimmt irgendetwas nicht mit der Auswahl der Bilder oder mit dem Konzept, sie in der besprochenen Weise anzuordnen? Nein, hast du geantwortet, es sei alles in Ordnung. Trotzdem hast du verbissen weiter den Raum, der dir vertraut war, gemächlich durchmessen und alles im Blick gehabt. Wir haben uns zu einer kleinen Stärkung, die aus deiner Sicht gar nicht notwendig gewesen wäre, niedergesetzt. Meine vorsichtigen Fragen nach deiner Verfassung wurden immer bohrender. Nein, es würde alles passen, du würdest dich wohl fühlen. Und dann: Gestern in der Nacht, vor dem Einschlafen hättest du deine Ausstellung vor dir gesehen – Die Anordnung der Bilder, wie in mehreren Durchgängen vor Ort vereinbart, sei richtig und hätte eine gewisse Spannung – oder hätte ich Zweifel? Nun war ich in die Argumentationsrolle gedrängt: Nein, sagte ich, weil ich tatsächlich der Meinung war, wir hätten ein gutes Konzept entwickelt und seien nun dabei, es umzusetzen. Dann sei ja alles in Ordnung, war deine Antwort, Günter. Aber: Im Ausstellungsrundgang vor dem Einschlafen seien die Wände doch grau gewesen und das habe viel besser gepasst.
Die Wände wurden in aller Eile umgestrichen und spätestens bei der Ausstellungseröffnung hat sich gezeigt: Du hast Recht gehabt!
Diese Intuition, dieses unglaublich sichere Gefühl für Farben, Flächen, Räume und deren Beziehung zueinander haben Günter Waldorfs künstlerisches Leben bestimmt.
Es ist eine gute – vorwiegend in der Theaterwelt übliche – österreichische Tradition, dem oder der respektvoll Verehrten nur den Artikel voranzustellen, also: der Waldorf ist nicht mehr unter uns, muss es heißen.
Die Stadt Graz, das Land Steiermark, das Bundesministerium in Wien – alle haben den Künstler mit Ehrungen ausgezeichnet: Er ist zu einer Ikone, also zum Urbild des Malers, des Künstlers geworden und für viele zudem noch quasi zu einer meinungsstiftenden Institution. Zu dieser Einschätzung hat der Waldorf immer wieder Anlass gegeben. Es muss hier nicht näher erläutert werden, mit welcher Energie er mit seinen Freunden und Wegbegleitern gegen eine in der Steiermark nahezu zum Stillstand gekommene künstlerische Entwicklung und gegen eine reaktionäre Rezeption von neuen Ideen und Veränderungen aufbegehrt hat. Er, der später zu Unrecht immer als der Stille, der sich kaum zu Wort meldet, gegolten hat und doch unendlich viele Geschichten, u.a. die hitverdächtige von einer Pilgerreise nach Rom im Heiligen Jahr 1950, erzählen konnte, war einer der treibenden Kräfte bei der Gründung des Forum Stadtpark, das ab 1960 die Kunstszene in Graz verändern und die Stadt aus ihrer Isolation herausholen sollte. Mit offenen Augen sollten die Künstlerinnen und Künstler über die Grenzen der Steiermark hinausblicken und „Fremde“ in das Land einladen.
Aus einer nur scheinbar gesicherten Deckung heraus, die ihm von seinem Sport her vertraut war, hat sich der Waldorf immer wieder knapp, aber deutlich, zum Beispiel zu so brisanten Themen wie einem Museum für die steirische Kunst, zu Wort gemeldet.
Die Waldörfer als ein gemeinschaftliches Ensemble hat er nicht nur auf die Leinwand, sondern auch ins Gespräch gebracht. Wenn man allerdings meint, in Waldorfs Œuvre Fuß gefasst zu haben, sobald man etwa den Charming Old Boy, die Baby Faces, Baby Doll oder Sam Guggenheim mit seinem Sohn kennt, dann weiß man zwar über eine wichtige und bekannte Phase seines Werks Bescheid, hat aber die künstlerische Persönlichkeit bei weitem noch nicht erfasst. Es gibt auch noch den „anderen“ Waldorf, den Maler der Landschaft von Dugi Otok, der Imaginären Landschaften oder der Kretischen Motive. Der Weg in die Abstraktion war nicht aufzuhalten und scheint unmittelbar nach der Gründung des Forum Stadtpark am Ziel angelangt zu sein. In Tusche werden Ton in Ton, von hell nach dunkel abgestuft, flächige oder durch Strichlagen erzeugte Raumschichten übereinander gelagert; jeder Rest einer identifizierbaren Form verschwindet aus dem Bild. Über die Dynamik der Strukturen und das dichte Gewebe bedient sich der Maler gekonnt der tachistischen Sprache.
Aber auch der kritische Weltbeobachter Waldorf tritt auf den Plan, der ohne langes theoretisches Grübeln Interreligiöse Zeichen konzipiert – eine neutrale Kreuzform aus blauen (Christentum und Judentum), grünen (Islam), schwarzen (die anderen Religionen Afrikas) und roten (die anderen Religionen Asiens) Winkelelementen – und ebenso als signalhafte Marken vorgestellt hat wie die Flaggenparade, in der sich unter anderem die Wahlverwandtschaft Österreich-Ungarn oder das Europator Deutschland-Frankreich findet.
Über einen großen Zeitraum seines Lebens aber waren die Waldörfer ein Herzensanliegen. Sie sind von stupender Qualität, auch in ihrem Reichtum an Variationen. Und in ihrem Dialog mit der Landschaft – und das trotz einer scheinbar nicht mehr steigerungsmöglichen Reduktion der Bildgestalten. Es scheint keine Hausform mehr zu geben, sieht man von den Baumeister-Katalogen ab, die sich nicht schon einzeln oder in einer Gruppe in Waldorfschen Landschaften wieder findet. Und sei es, wie seit der Jahrtausendwende, als in seinen Proportionen präzises, auf zwei Dimensionen zurückgeführtes Objekt im nun ebenfalls strengen Raster der Naturformation. Die angesprochene Vielfalt und Vielseitigkeit ist nicht untypisch für einen, der mit fünf Jahren Künstler werden wollte und mit Zwanzig bereits italienische Landschaften zeichnete, die eine überraschend sichere Handschrift verraten. Wenn man den längst etablierten Meister neugierig gefragt hat, was er als Nächstes vorhabe, hat er von einem Manifest der Langsamkeit gesprochen, das dringend zu veröffentlichen sei und auf den guten alten Niederländer Jan Vermeer verwiesen, der nicht mehr als 33 oder 37 Bilder gemalt haben soll. Bis ins hohe Alter hat der Waldorf gemalt. Die Formate sind kleiner, die Farben bunter geworden. Was er perfektioniert hat, wenn das überhaupt noch möglich war, ist das Gefühl für den Rhythmus von Farbe und Form, für eine Balance, die sich von einem sicher gesetzten Punkt aus entwickelt.
Es ist bemerkenswert, dass sich niemand an Waldorfs künstlerisches Konzept auch nur ein kleines Stück des Weges angenähert hat: Zu bestimmt, zu authentisch und zugleich zu variantenreich sind insbesondere die mit Witz und Ironie ausgestatteten Figuren oder Stillleben, die nicht ohne Anspielungen und Verweise auskommen wollen Sie sind als malerisches Statement derart ausgefeilt, dass eine Wiederholung oder auch eine ernsthafte Paraphrase ins Leere gelaufen wären. So sind diese mit Erfindungsreichtum und großer Kraft über die Kunst in die Welt gesetzten Bildmotive als einzigartige Spuren in der steirischen und österreichischen Kunstgeschichte eingeschrieben, Spuren, die auch stürmische Zeiten oder solche des interesselosen Wohlgefallens nicht in der Lage sind, auszulöschen.
Viele Ideen hast du geboren, viele Anregungen gegeben und viele Entscheidungen getroffen, Günter. Als du eines Tages, deine sieben Sachen gepackt, auf dem Bahnsteig des Grazer Hauptbahnhofs gestanden bist, um mit Freunden auszuwandern und ehe der Fahrdienstleiter das Abfahrtssignal gegeben hat dein Gepäck rasch noch aus dem Waggon geholt hast, da hast du für uns die beste Entscheidung getroffen: Hier zu bleiben und uns Jahrzehnte lang an deinen Ideen und deren künstlerischer Umsetzung teilhaben zu lassen.
Danke, Günter!