Fedo Ertl, Ohne Titel – Death Row/Untitled
1. Das andere Wahrnehmungspotential von Kunst
Wenn Andrea Fraser in ihrer Arbeit „Eine Gesellschaft des Geschmacks“ alle neun Vorstandsmitglieder des Kunstvereins München interviewt und dieses Material komprimiert und gruppiert mittels Audiotapes, ergänzt durch einige Exponate aus den privaten Sammlungen der Gesprächspartner, im Ausstellungsraum installiert,1Andrea Fraser, Eine Gesellschaft des Geschmacks, Kunstverein München, 1993. wenn Hans Haacke an den Propyläen des Königsplatzes in München auf zwei schwarzen, ein zentrales Totenkopftuch flankierenden Fahnen die Namen deutscher Firmen – von AEG bis Thyssen – auflistet, die sich nachweislich im Irak engagierten,2Hans Haacke, Die Fahne hoch, Projekt ARGUSAUGE, München, 1991. wird die Überlappung von künstlerischer und gesellschaftlicher Praxis zum zentralen Thema. Da mit diesen beiden Beispielen keine exotischen Strategien ausgegraben, sondern zwei exemplarische Verhaltensmuster aus unzähligen anderen in Erinnerung gerufen werden, scheint am Ende unseres Jahrhunderts trotz einer vielfach behaupteten Orientierungslosigkeit, eines unüberschaubaren Pluralismus, eine neue Avantgarde mit der Zielrichtung des sozialen Kontexts wirksam zu sein.
Entscheidend dabei ist, daß sich die Kunst nicht in erster Linie ihrer formalen und damit ausschließlich ästhetischen Qualitäten versichert, um von hier aus nach dort, also nach einer aktuellen, komplexen Matrix, zu gelangen. Das nach den sechziger und frühen siebziger Jahren wiedererrichtete größere Gebäude bildet den Ausgangspunkt der verwendeten künstlerischen Modi. Das bedeutet, daß in diesem im Vordergrund stehenden Segment künstlerischer Praxis auch die mediale Diskussion einer neuen Handhabung und Bewertung unterliegt. Im Einschließen des Ästhetischen in die Fakten sozialer und gesellschaftlicher Systeme entwickelt sich die künstlerische Methode, bis hin zur konkreten Erscheinungsform, aus dem Komplex realer Vorgänge und Zusammenhänge. Die Formen der Veranschaulichung von Wahrnehmung – somit die ästhetische Komponente – folgen in Material und Anordnung, also in ihrer kunstmedialen Struktur, den besonderen Bedingungen des vom Künstler in der Konfrontation mit dem Untersuchungsfeld ausgearbeiteten Fragenkataloges. Die Kolonialisierung vom Ästhetischen aus unterbleibt.
Hand in Hand mit diesen erneuerten und vor allem neu ausgeloteten Strukturen, die als Ergebnis eine veränderte oder überhaupt wieder eine Orientierung im Lebensraum mit den Mitteln der Kunst anstreben, geht die Ausweitung des künstlerischen Raumes. Indem die verschiedensten Realphänomene zur Disposition stehen, der Blick also dezidiert von einer inneren, mit psychogrammatikalischen Mitteln dargestellten Wirklichkeit auf die äußere gewendet wird, erweitert sich der Anspruch an das Umfeld und die Methoden der Recherche. Mit der Wirklichkeitspraxis im Blickfeld dehnt sich der Beobachtungsraum auch auf andere Disziplinen menschlichen Forschungs- und Gestaltungsvermögens aus. So stehen auf dem einen Ende der Skala die neuen Technologien in ihren unterschiedlichen Entwicklungs- und Einsatzbereichen, auf dem anderen bestehende gesellschaftliche Praktiken, wie auch die Archive mit den Daten ihrer Geschichte, der Perpetuierung sowie der Veränderung des Ist-Zustandes. Das Datenmaterial dieser Archive ist auf unterschiedlichste Weise strukturiert.
Wie die beiden eingangs erwähnten Beispiele zeigen, handelt es sich bei gesellschaftspolitischen Phänomenen um ein weites Feld. Im einen Fall, der Arbeit von Andrea Fraser, ist der künstlerische Zugang ein selbstreflexiver. Es werden die als „Betriebssystem“3Thomas Wulffen (Hrsg.), Betriebssystem Kunst, Kunstforum, Bd. 125, 1994. apostrophierten, kunstimmanenten Zusammenhänge als eine Art von Systemschleifen veranschaulicht. In der Struktur eines bestimmten Kunstvereins, die sich durch die Intervention der Künstlerin nach außen vermittelt, steht paradigmatisch Kunst als Produktions- und Vermittlungshandlung im Mittelpunkt. Hans Haacke, der sich mehrfach exemplarisch und oftmals mit Widerstand von Seiten der Institutionen mit der Verflechtung von Kunst und Politik eingelassen und kompromittierende Ergebnisse zu Tage gefördert hatte, setzte mit seiner Münchner Arbeit im öffentlichen Raum auf die Be-Zeichnung wirtschaftlich-politischer Determinanten, die er aus der (deutschen) Geschichte ableitete und über die rekonstruierte Ästhetik deutlich sichtbar in ihr verankerte. Das Begreifen von Kunst als Instrument, um über das einzelne Artefakt hinausgehende Zusammenhänge aufzuschlüsseln, muß, wie wir auch an den klassischen Beispielen von Daniel Buren oder Gerhard Merz sehen, nicht notwendigerweise im politischen Kontext münden. Andererseits steht dieser Tatsache heute eine Reihe von Beispielen, ausformuliert von einer jüngeren Künstlergeneration, gegenüber, die sich explizit auf Dimensionen des Politischen als entscheidendes Phänomen eines gesamtgesellschaftlichen Raumes einlassen.
Eine große Anzahl von Arbeiten des Grazers Fedo Ertl, nach unterschiedlicher Matrix aufgebaut, trägt die unverkennbare Handschrift des Politischen. Meist den Prozeß als anti-statischen und damit dem herkömmlichen Werkbegriff entgegengesetzten Parameter aktivierend, setzte er die Veränderung und die von ihr ausgelöste Kommunikation in der Realzeit ebenso ein wie in der historischen Rückblende. Mit der Verhüllung der allegorischen Brunnenfigur des steirischen Hauptflusses Mur am bekannten Erzherzog-Johann-Denkmal im Zentrum von Graz 4Fedo Ertl, Mur. Installation am Grazer Hauptplatz, Projekt KUNSTWASSER der „Steirischen Kulturinitiative“, 1985.bezog er sich auf den Zeitfaktor zwischen parlamentarischer Entscheidung und der Wirksamkeit der dadurch gesetzten oder versprochenen Maßnahmen: In einer Enquete sollte der lebensbedrohenden Verschmutzung des Flusses mit wirksamen Maßnahmen zu Leibe gerückt werden. Ertl verhüllte die liebliche Frauengestalt am Brunnen mit einem kubistisch geformten Stahlmantel, der als Eingriff in das gewohnte Bild für jedermann sichtbar war, in seiner formalen Ausdifferenzierung aber eher als künstlerisches Zitat denn als grober Störfaktor in Erscheinung trat: Ein temporäres Kunstwerk, so lange „in Betrieb“, bis die von den politischen Entscheidungsträgern beschlossenen Maßnahmen ihre Wirkung, das heißt eine bessere Wasserqualität, zeigten. Die politische Brisanz der künstlerischen Handlung mußte nicht erst in Kommentaren beschworen werden – die Verkleidung der nicht nur touristischen Attraktion aus dem 19. Jahrhundert wurde nach kurzer Zeit gegen den Willen des Künstlers von Amts wegen entfernt.
In einer Reihe von Projekten setzte sich Fedo Ertl mit der nationalsozialistischen Geschichte von Graz auseinander. Wenn auch auf unterschiedlicher Ebene stand die Recherche über zerstörte Architektur und die damit verbundenen menschlichen Schicksale im Zentrum der Arbeiten. Einmal gelang es Ertl, Ziegelreste der in der Reichskristallnacht vernichteten Synagoge in einer Einfriedungsmauer, weit entfernt vom Ort des Geschehens, aufzufinden.5ders., Mahnmal 38/88, Alberstraße 1, Graz, 1983. In einem schmalen Streifen wurde das historische Baumaterial freigelegt: Nur eine schlichte Tafel beschrieb den Sachverhalt. Im Zuge dieses Projektes knüpfte der Künstler Kontakte mit einigen der wenigen seit damals noch in Graz lebenden Mitgliedern der jüdischen Bevölkerung, aber auch mit den überlebenden des Holocaust und Vertriebenen in den USA. Diese neu, über den Anlaß der Recherche hinaus, aufgebaute Kommunikationsstruktur wurde in einer langzeitig vorbereiteten Tele-Konferenz zwischen Graz und Santa Barbara erweitert.6ders., Mahnmal Graz – Los Angeles, Municipal Art Gallery, Los Angeles, 1985 und Mahnmal Graz – Santa Barbara – Graz, Contemporary Arts Forum, Santa Barbara, 1988. Mit dieser Oral History wandte sich Ertl schon Mitte der 80er Jahre historischen und politischen Themenbereichen zu und stimmte sein künstlerisches Instrumentarium unmißverständlich auf den Anlaßfall ab. Im Zurücknehmen des klassischen Gestaltungsprozesses zugunsten der Herstellung von Kommunikationsleitungen minimalisierte er das Formenvokabular zugunsten eines in Gang gesetzten Prozesses, der Dokumentation als Auf-Arbeitung definierte.
2. Death Row
Das Projekt, in US-Todeszellen einsitzende Häftlinge zu interviewen, unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten von der eben angesprochenen dokumentarischen und kommunikativen Instrumentalisierung: Erstens wird die Projektion in die Vergangenheit durch die Zeitgleichheit ersetzt, zweitens mußte zum Zeitpunkt des Interviews, unabhängig von möglicherweise erfolgreichen Berufungsverhandlungen, davon ausgegangen werden, daß die Hinrichtung erfolgen wird und daher für die Inhaftierten eine permanent vorhandene Projektion in die nahe oder nächste Zukunft von physischer und psychischer Bedeutung ist, und drittens betrifft die vom Staat in Gang gesetzte Tötungsmaschinerie nicht den menschenverachtenden, ideologisch festgelegten Rassenwahn, sondern sucht auf diese Weise individuelle Schuld zu sühnen.
Gemeinsam mit Cristiana Ferraro recherchierte Fedo Ertl durch Vermittlung und mit Unterstützung von Clive A. Stafford Smith, Rechtsanwalt und Leiter des Louisiana Crisis Assistance Center in New Orleans, in den Todeszellen von drei Haftanstalten: In Angola (Louisiana), in Parchman und Columbus (Mississippi). Von den insgesamt 2976 Todeshäftlingen aus jenen 37 Bundesstaaten, in denen zur Zeit die Todesstrafe verhängt wird (New York wird sich im Herbst anschließen), konnte mit sieben Personen, sechs Männern und einer Frau, der Kontakt aufgenommen werden. Sie stammen aus dem Kreis jener knapp 500 Häftlinge, die Clive Stafford Smith und seine Organisation, die sich unermüdlich und mit Erfolg grundsätzlich gegen die Todesstrafe, vor allem aber gegen deren Exekution einsetzen, vertreten. Bei der Auswahl wurde versucht, repräsentativ vorzugehen, das heißt, das sozialpolitische System der Vereinigten Staaten sollte dabei zur Sprache kommen.
Auffälligerweise sitzt ein hoher Prozentsatz von geistig behinderten, geisteskranken und aus der untersten sozialen Schichte stammenden Personen in den Todestrakten der nordamerikanischen Gefängnisse. Psychologische oder psychiatrische Betreuung dieser Inhaftierten ist so gut wie unbekannt. Als Mitarbeiter des Rechtsanwalts in den Haftanstalten „akkredidiert“, war das direkte, unzensurierte Gespräch in eigenen, nicht durch Gitter und Glas vom Häftling getrennten Räumen möglich. Nach dem Herstellen einer Vertrauensbasis arbeiteten Ertl und Ferraro während der dreimonatigen Arbeitsphase zielgerichtet am Aufbau eines offenen Kommunikationskanals, der den gegenseitigen Austausch von Informationen ermöglichte. Dieser beinhaltete auch die Vermittlung der Tatsache, daß die immer wiederkehrenden Besuche die Grundlage für eine künstlerische Arbeit bilden. Das Konzept, daß es sich dabei nicht um eine rein dokumentarische Arbeit handeln, sondern daß dabei auch ein darüber hinausgehender Gestaltungsfaktor eine Rolle spielen würde, veränderte auf der einen Seite die bisher gepflogenen Arbeitsmethoden Fedo Ertls im Bereich der sozialpolitischen Recherche, auf der anderen Seite konkretisierten sich die Gespräche mit den Inhaftierten in Richtung dieses Vorhabens.
In dem begrenzten Lebens- und Vorstellungsraum der Gesprächspartner wurde neben der weit geöffneten Schere zwischen der Unausweichlichkeit ihres weiteren Schicksals und dem Hoffen auf eine Revision dieses festgeschriebenen Faktums eine weitere als diese unmittelbare zukünftige Projektionsfläche eingezogen: die Möglichkeit, der abgeschotteten, nun plötzlich in den gesellschaftlichen Raum der Kunst rückintegrierten Befindlichkeit Gestalt zu verleihen. Ertl animierte die Häftlinge „on Death Row“, Räume zu entwerfen, die in der Lage sind, ihre Situation widerzuspiegeln. Diese in der Endfassung gemeinsam entwickelten Installationen bilden den Schwerpunkt des Projektraumes Griesgasse 30. Die weiteren Elemente sind Videodokumentationen der Gespräche mit den Häftlingen aus Angola (nur dort durfte Georg Altziebler mit dem ORF/3 SAT-Team filmen), mit dem Rechtsanwalt, mit den Angehörigen von zwei Todeskandidaten, mit dem stellvertretenden Gefängnisdirektor, der in allen Einzelheiten die Art der Hinrichtung erläutert. Schließlich bildet der „Mississippi Gassing Room“ das Gelenk zum Holocaust, und auf einer Wand werden die Namen aller Todeshäftlinge in den USA als Summe der auf ihre Hinrichtung wartenden Menschen aufgelistet.
Durch die Verbindung der ausführlichen dokumentarischen Elemente mit den Installationen von Alvin Scott Loyd, Bart Cross, Eddie Mitchell, Ricky Langley, Bryan Kolberg und Sabrina Butler situiert Fedo Ertl sein Projekt auf einer spezifisch künstlerischen Ebene, auf der sich kollektives politisches Handeln und ursächlich damit in Zusammenhang stehende individuelle Konfigurationen überkreuzen. Dadurch, daß er nicht Spurensicherung und Feldforschung im klassischen und historisierenden Sinn betreibt und die Vergangenheit von Personen in die Erinnerung der Gegenwart überführt, unterscheidet sich diese künstlerische Methode zum Beispiel wesentlich von der Christian Boltanskis. Nicht auf der Rekonstruktion von Geschichte liegt der Hauptakzent, sondern auf der Darstellung einer ganz konkreten Konstruktion von Gegenwart. Gerade diese Konkretisierung, die vor dem legistisch geplanten Akt der Auslöschung menschlicher Existenzen erfolgt und damit dem Unrecht des Mordens mit dem Recht der Tötung begegnet, schaltet die inhaltliche Dimension direkt ·zu aktuellen gesellschaftlichen Normen und akuten Denkmodellen der Ausweitung dieser Praktiken durch.
Fedo Ertl läßt sich dabei nicht auf strukturalistische Weise auf „die vielfältigen Beziehungen zwischen dem Gesetz und der Perversion“ ein, er geht nicht der grundsätzlichen Frage nach, ob „der autoritative Schein des Gesetzes … ein Ersatz“ oder – „im Grunde genommen ein Fetisch des Perversen“ ist, eine der Überlegungen, die Hirsch Perlman in einem Essay mit Jeanne Dunning untersuchte.7John Miller, Anleitung zur Durchführung eines Verhörs für Laien, in: Texte zur Kunst, März 1993. Zit. nach Peter Weibel, Kontext Kunst, Köln 1994, S. 482. Der in Chicago arbeitende Künstler hat in seinen Arbeiten zu Gerichtsfällen, z.B. „Exhibit A, B, C, D, E, K, L, Q, R, S, T“ (1990), eine Konfrontation zwischen protokollierten Zeugenaussagen und Textstellen von Gertrude Stein vorgenommen. „Dabei erscheinen die aus dem Zusammenhang gerissenen Gerichtsprotokolle plötzlich völlig irrational, wogegen der literarische Text von Gertrude Stein vergleichsweise sehr klar und rational klingt.“8op.cit., S. 477. In dieser Publikation sind die „Gerichtssaal“-Arbeiten von H. Perlman mit Abbildungen und verschiedenen Textpassagen dokumentiert. Perlman nimmt mit seinem künstlerischen Ansatz eine Transformation von Urteils- und Machtverhältnissen vor, die auf verschiedenste Sparten von Bewertung, unter anderem auch auf die Beurteilung von Kunst, anwendbar sind. Auf diese Weise legt er Strukturen frei, die kategorial in der Organisation von Gesellschaft notwendigerweise (?) enthalten und wirksam sind.
„Death Row“ rückt von der Diskussion von Machtstrukturen ab: Die unmittelbare Auswirkung demokratischer Macht auf sieben Menschen steht im Mittelpunkt des Projekts. Die Übertragung der Gestaltung an die von der Auswirkung der Macht Betroffenen signalisiert eine Umwertung und Ausweitung des aktuell formalisierten Kontexts als künstlerische Strategie. Gerade im Wechselspiel zwischen dokumentarischem und gestalterischem Anteil am Gesamtprojekt wird deutlich, daß sich in dieser Auffassung generell die Parameter von Kunst verschieben: Die formalen und medialen Kategorien, die sogenannten interdisziplinären Ansätze in den Installationen, die auf den ersten Blick Nachläufer postmoderner Attitüden sein könnten, nehmen die Funktion von Platzhaltern ein. Platzhalter einerseits für Formen und Formeln, mit denen sich Ängste, Hoffnungen und Projektionen eines „anderen“ Lebens kaum darstellen lassen, Platzhalter auch andererseits für die Rolle des Künstlers, der die Realität nicht mehr (selbst) gestaltet, sondern deren Wahrnehmung durch die Menschen thematisiert. Diese künstlerische Haltung, die den Diskurs in der Kunst der 90er Jahre als Schwerpunkt bestimmt, spitzt Fedo Ertl zu einer Doppelprojektion zu: Die Menschen mit ihrem aktivierten Wahrnehmungsinstrumentarium – das sind in diesem Fall die betroffenen Gestalter ihrer eigenen Lebensräume, die sie über eine in die ästhetische Sprache transformierte Form und über den Anlaß, ein Kunstprojekt, in den geografisch transferierten gesellschaftlichen Raum integrieren. Diesem Raum gehört Kunst grundsätziich an, vor allem aber in dieser Diktion. Die Menschen – das sind aber auch die Betrachter, die mit dem Vokabular von Kunst in ihrer Beobachterrolle (heraus)gefordert werden.
Ein Projekt, wie das von Fedo Ertl ausformulierte, wirft auch heute noch zwangsläufig die Frage nach dem Maßstab der Übersetzungseinheit Kunst auf. Damit sind im Sinne der Artefakt-Diktion Überhöhung, Verfremdung, ästhetische Raffinesse, der AnteiI des Fremd-Formalen gegenüber dem Norm-Formalen angesprochen. Im konkreten Fall steht zudem die Tatsache der Gestaltungsübertragung zur Disposition: Die Objekte der Beschreibung und Recherche – der erste künstlerische Akt als Auswahlverfahren innerhalb des Konzeptes – sind gleichzeitig sieben Ich-Erzähler, die nicht als Konstrukt des Autors, sondern als existierende Subjekte agieren. Ihr ästhetisches, vom Künstler betreutes Repertoire erfüllt deshalb nicht die geläufigen Art brut-Funktionen, weil im Gegensatz zur unkontrollierten, oft therapeutisch genutzten Kreativität von Anfang an der Gestaltungsmechanismus auf die Komponente des sozialen Raums fokussiert war. So steht der psychische Habitus des Einzelnen als Ergebnis gesellschaftlicher Machtstrukturen im Zentrum des in gestalterische und dokumentarische Abschnitte verzweigten Projektes. Die Lichträume, die steckengebliebene Schallplatte, die auf der Stelle tickenden Uhrzeiger, die Endlosschleife des Laufbandes, die Poster für ein fiktives Rock-Konzert, verdorbene und frische Nahrungsmittel, die fletschende Hundefratze als unendliche Spiegelung im Videoraum oder der Aufriß eines bürgerlichen Einfamilienhauses bieten eine große Variationsmenge an selbstreflexiven Metaphern. Als Codes können sie nur im gesellschaftlichen Raum entschlüsselt werden, der wiederum durch seine letalen Sanktionsstrategien Auslösefaktor und Projektionsraum für diese animierte Metaphorik ist.
Die Entität der Kunst und der Diskurs der Kunst werden befragt und in Frage gestellt. Es sind Fragen nach dem kulturellen Verständnis und der gesellschaftlichen Verantwortung der Kunst. Fedo Ertl formuliert die Frage nicht als Option, sondern legt Dokumente für die Berechtigung und Notwendigkeit der Fragestellung vor. Die Ausformulierung in einer künstlerischen Sprache ist die Übersetzungsarbeit, die Kunst als Aufbau einer anderen Wahrnehmungsstruktur leisten kann.
Manuskript zu: Werner Fenz, Ohne Titel – Death Row / Untitled, in: Death Row. Ein Projekt von / a project by Fedo Ertl, steirischer herbst: Graz 1995, S. 1–9.
Abbildungen: steirischer herbst
Fotos: 3SAT, Josef Krainer, Hans Georg Tropper
Publikation
↑1 | Andrea Fraser, Eine Gesellschaft des Geschmacks, Kunstverein München, 1993. |
---|---|
↑2 | Hans Haacke, Die Fahne hoch, Projekt ARGUSAUGE, München, 1991. |
↑3 | Thomas Wulffen (Hrsg.), Betriebssystem Kunst, Kunstforum, Bd. 125, 1994. |
↑4 | Fedo Ertl, Mur. Installation am Grazer Hauptplatz, Projekt KUNSTWASSER der „Steirischen Kulturinitiative“, 1985. |
↑5 | ders., Mahnmal 38/88, Alberstraße 1, Graz, 1983. |
↑6 | ders., Mahnmal Graz – Los Angeles, Municipal Art Gallery, Los Angeles, 1985 und Mahnmal Graz – Santa Barbara – Graz, Contemporary Arts Forum, Santa Barbara, 1988. |
↑7 | John Miller, Anleitung zur Durchführung eines Verhörs für Laien, in: Texte zur Kunst, März 1993. Zit. nach Peter Weibel, Kontext Kunst, Köln 1994, S. 482. |
↑8 | op.cit., S. 477. In dieser Publikation sind die „Gerichtssaal“-Arbeiten von H. Perlman mit Abbildungen und verschiedenen Textpassagen dokumentiert. |