Einatmen! Ausatmen!
Ein Versuch, der Kunst Werner Reiterers in Kürze beizukommen
Möglicherweise würde es der Kunst Werner Reiterers, für die er heute geehrt wird, eher entsprechen, wenn ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, jetzt mit dem Inhalt seines Raumprojekts von 1997 konfrontieren und auffordern würde: „Holen Sie tief Atem und tragen Sie die Luft in den nächsten Raum“. Dann wären wir alle mitten im Geschehen einer scheinbar krausen künstlerischen Welt, in der uns sinnliche Ironie und tiefere Bedeutung die Orientierungspunkte liefern. Stattdessen trete ich – ganz in der Art eines monologisierenden Studenten (sprich: Absolventen) der Kunstgeschichte, der sich unter einem Sockel (sprich: hinter einem Rednerpult) befindet (Titel eines Reiterer-Objekts) – vor Sie hin und versuche, eine vorläufige Bilanz über ein seit Jahren aufregendes Werk zu ziehen.
Vielleicht kann uns ein Projekt aus vielen weiteren möglichen Arbeiten eine beispielhafte Vorstellung davon liefern, warum das Werk von Werner Reiterer in den letzten Jahren eine derartige Aufmerksamkeit im internationalen Kunstgeschehen erregte. Der Künstler höhlt nicht nur Gebäude, er höhlt unsere ästhetischen und gedanklichen Vorstellungen aus.
Sein künstlerischer Beitrag für die Landesberufsschule St. Pölten (fertiggestellt 1997) bestand darin, eine Ecke des Gebäudes zu untergraben. Dadurch wird es dem Betrachter möglich, in ein neues räumliches Verhältnis zum Bau einzutreten. Mit dem partiellen Freilegen der Fundamente und dem Schaffen der Möglichkeit, diese ästhetisch und – durch das Unterwandern – physisch zu erleben, legt er auch das perfektionistisch standardisierte Erscheinungsbild von Architektur bloß. Der Rekurs auf die Codierungen des Bauwerks schafft einerseits theoriebezogene, andererseits erlebnisorientierte Konnotationen. Beide gründen auf vorhandene und eingeübte Gestaltungsmuster und damit auf die in vielen Beispielen der heutigen Kunst aktuelle Frage nach der Differenzierungsqualität gegenüber den realen Erscheinungsformen. Die auf den Lebenszusammenhang erweiterten künstlerischen Parameter erfordern ein radikal verändertes Vokabular, das aus der jeweiligen Situation ausgebildet wird. Invention wird hier vor dem Hintergrund realer, in Gebrauch befindlicher ästhetischer Determinanten durch Intervention abgelöst. Eine Intervention, die in ihrer relativen Minimalität – nicht nur im Verhältnis zum gesamten Bauvolumen – begriffliche und wahrnehmungsspezifische Wertigkeiten umzukehren imstande ist: Das künstlerische Segment destabilisiert die Architektur – und nicht nur sie – in ihrer kategorialen Bestimmung und läßt sie nunmehr als skulpturales Gebilde im Ganzen begreifen.
Reiterers künstlerische Grammatik ist durch Umkehreffekte bestimmt. Diese gründen nicht auf bloßer Beobachtung, sondern in stringenter Form auf der Beobachtung des Beobachteten, auf spontaner wie ausführlicher Konzeption und auf überzeugender Veranschaulichung.
Umkehren und die dabei freigesetzten Effekte zu nutzen, heißt nicht, zurückzugehen und sich dann bloß mit den bisher vorhandenen künstlerischen Tools zu beschäftigen. Es bedeutet, die ausgetretenen Pfade des Mainstreams und die parallel dazu verlaufende Schiene der Funktionalisierung der Kunst für Repräsentation und kommerziellen Mehrwert zu verlassen. Reiterer kehrt um mit dem Ziel, weiter zu gehen als viele andere.
Wir täuschen uns, wenn wir Werner Reiterer – so sehr er uns dieser Versuchung im persönlichen Umgang aussetzt – als Everybody’s Darling einstufen. Er kann kompromißlos und stur sein. Vor allem, wenn es um Qualität geht. Er kann schroff ablehnend sein, wenn es um Stillstand oder Déjà-vus geht. Das weite Land der virtuellen Welten ist nicht seines. Der Technik hingegen fordert er – gemeinsam mit seinem Assistenten – alles ab, wenn er sie für seine Zwecke benötigt: zum Beispiel, um banale Peitschenlampen sicher rotieren zu lassen, um die österreichische Fahne auf Halbmast zu setzen – gekoppelt an die Stockwerksposition des Lifts im Bezirksgericht Salzburg (2000/2001). Die innere Mobilitätsstruktur wird nach außen übersetzt: nicht mit Hilfe eines gestalteten Kunstobjekts, nein, mit einem normativen, allgegenwärtigen nationalen Symbol.
Der prall gefüllte Ideenfundus ist das Ergebnis eines Workaholic. Ein Objekte produzierender und Raum schaffender, von der Methode und vom Material her aber auch klassischer Zeichner, wie er arbeitet: unermüdlich an seinen Vorstellungen, die von diesem Ausgangspunkt bis hin zu „Gezeichneten Ausstellungen“ gedeihen. In diesen Blättern tauchen die fruchtbaren Keime auf, selbst wenn sie im Status autonomer Arbeiten ausgeführt sind. Auch hier steht die Auseinandersetzung mit dem semiotischen System und mit der Semantik an zentraler Stelle. Alles scheint auf den ersten Blick bekannt, kommt in mimetischer Statur daher – bis wir merken, dass diese Statur weit von ihren Idealmaßen entfernt ist, wenn wir sie an den angepaßten Standardgrößen (der traditionellen Zeichnung, der Kunst insgesamt) messen. Da ist in den schlichten Räumen, in den kargen Landschaften Platz für eine, hinter der offensichtlichen, versteckte Augenscheinlichkeit – für eine, die sich unter der Oberfläche entfaltet. Eine scheinbar so einfach erstellte semiotische Steuereinheit markiert im zweidimensionalen Zeichenraster wie in der dreidimensionalen Objektanordnung Raumpositionen nicht nur durch das bloße Vorhandensein von Artefakten, die nicht der Larve des Ready-Mades entschlüpft, sondern in einen luftigen Kokon der lustvollen Destabilisierung gehüllt sind. Die Zielrichtung ist vielmehr die Ikonografie der Artefakte. Im Möbel per se, in der habituellen Möblierung durch Verbindungen und Anordnungen, wird der Objektcharakter durch den Kontext der Objekte überlagert. Im Entfunktionalisieren des Möbels oder eines konnotativen (Wohn)Raumdetails ist die Codierung der alltäglichen Funktionalisierung als bestimmender Erfahrungsbereich mit eingeschlossen.
An der Schnittstelle zwischen Funktion-Auflösen und gleichzeitig Funktion-nachdrücklich-Determinieren wird als Synthese der Raum nicht nur als Summe von Positionierungen einzelner ver-rückter Objekte/Gegenstände bezeichnet, sondern als Wahrnehmungsraum unter der Prämisse von geläufiger Benutzerqualität. Immer nachdrücklicher erschließen sich die Türkuben, die Volumen der „Kommoden“, die objekthaft formalisierten Strukturgebilde elektrischer Versorgungsleitungen – in die dritte Dimension übersetzte entfunktionalisierte Schaltschemata – als nicht referenzlose materialverliebte Gebilde, sondern als künstlerische Übersetzungen der Ikonografie des Lebensraums. Dieser Lebensraum ist nicht an prospektive Kommunikationsstrategien gekoppelt, also nicht an die scheinbar unendlichen Ausbau- und Vernetzungsmöglichkeiten in Richtung virtueller Welten und die dadurch erweiterten Erfahrungshorizonte; er bilanziert nicht bestimmte Entwicklungsstadien der fiktiven und tatsächlichen Raumerweiterung; er entwirft nicht Weltmodelle räumlicher Interfaces; er thematisiert den normativen Raum, wie er durch normatives Raumerstellen in Außen- und Innenarchitektur uns hier und dort, heute und täglich, umgibt.
Welcher Ikonografie genauer folgen die von Werner Reiterer getroffenen interventionistischen Anordnungen? Läßt sich die ikonografische Richtung allein durch einen bewußt gesteuerten Verlust der jeweiligen Semantik beschreiben?
Diese These scheint auf den ersten Blick brauchbar – aber sie greift zu kurz. Faktum ist, dass es sich bei den Objekten meist um Alltagsrequisiten handelt, deren Funktionen durch Eingriffe, durch Veränderungen verschiedenster Art, durch neue, ungewohnte Kombinationen, auf einer standardisierten Ebene ausgeschaltet sind. Die Verbindungslinien zwischen Objekt und seiner Bearbeitung, zwischen einzelnen Objekten und zwischen Objekt und Text laufen auf unterschiedlichen Ebenen. Diese können zunächst tautologischen Charakter aufweisen, wenn ein Kabel mit zwei Steckern in zwei Steckdosen kurz geschlossen wird (Ohne Titel, 1994), aber im nächsten Moment, wenn eben diese Leitungen und Stecker Orten oder Personen zugeordnet werden (Ohne Titel, 1994), auf scheinbar einfachste Art und Weise – wenn der Funktionsverlust unsere Wahrnehmung entscheidend stimuliert – ein kommunikatives Schaltbild modellhaft verbildlichen.
Zwischen Selbstreferenz und Interaktion ist eine Arbeit in der Straßenmeisterei Weiz (1996/97) angesiedelt: Die Fläche des Innenhofs wurde mit oranger Farbe – korrespondierend mit dem Erscheinungsbild der Arbeitsanzüge und des Fuhrparks – bemalt. Durch die Benützung dieser Fläche im Arbeitsablauf – Ausfahren und Einfahren der Fahrzeuge – weist das Projekt über ein ironisch erweitertes Corporate Design weit hinaus: Die Arbeit/die Arbeiter setzen auf das monochrome, von der Vertikalen in die Horizontale gekippte Bild ihre Spuren – die der Gummi- und Eisenräder.
In der Kombination von natürlichem Efeu mit Kunststoffefeu (Ohne Titel, 1997 und 1997/98) – realisiert in der Haushaltsform mit verzinkter Blumenwanne, aber auch in der Landschaftsform im Garten eines Stiftungsgebäudes – decken sich auf den ersten Blick nicht nur zwei unterschiedliche Materialien, sondern die Systeme Natur und Kultur. Die Pflanzen sind nicht nur nicht das Gleiche, sondern auch nicht mehr Dasselbe. In diesem Werk steht weniger Reiterers Defunktionalisierungsstrategie, die wir immer wieder in den unterschiedlichsten Nuancen beobachten können, im Mittelpunkt als vielmehr das Sichtbarmachen der Verwischung von Grenzen. Die Paradoxie, die aus dieser Formulierung heraus gehört werden kann, ist nur eine scheinbare. Denn gerade diesen Status des Transitorischen, des Übergangs von einem Kontext zum anderen, des Überführens von der alltäglichen in die künstlerische Funktion augenscheinlich zu machen, zählt zu einem zentralen Wesenszug in der Arbeit des Werner Reiterer.
Wenn man diese Methode Verfremdung nennt, dann muß man sehr genau den Grad und die „Beschaffenheit“ der Verfremdung beobachten. Es handelt sich nicht um das Zusammenführen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch – was den Surrealisten ein grundsätzliches Anliegen war –, es ist ein zwar ausgeklügelter, aber dennoch unprätentiöser Schritt in die Umsemantisierung der Gegenstandswelt (Rainer Fuchs). Dadurch rückt der Gegenstand näher an die menschlichen Sehgewohnheiten, um diese umso stärker zu transformieren: Ein lustbetontes, mehr oder weniger unterschwelliges Vorgehen.
Dieses Vorgehen schließt auch den akustischen Raum mit ein. Der Blick in den Spiegel (Film, 1997) erzeugt einen von einem Lichtblitz begleiteten explosionsartigen Knall; das mit großem technischen Aufwand verstärkte Ein- und Ausatmen kulminiert, gekoppelt an eine immer stärkere Lichtintensität, in einer Blendung des Betrachters (Kassel, Bergpark Wilhelmshöhe, Licht(e)wege, 2002).
Dagegen kommen Arbeiten als Reflexion über Sprache und Wahrnehmung – auch solche scheinen im Repertoire des Künstlers nicht selten auf – mit weniger Lux und Dezibel aus: „Ich habe Ihnen nichts zu sagen“ tönt im Ausstellungsraum aus einer nicht identifizierbaren Tonquelle (Sprechende Wand, 1997). Die Nicht-Information mutiert zu einer grundlegenden Information, noch dazu in einem Raum, der üblicherweise der Bildsprache vorbehalten ist. Damit treten zwei Paradoxa auf den Plan, die jedoch nicht in die Irre führen, sondern das Informationssystem lediglich von einer anderen Seite im wahrsten Sinn des Wortes zur Sprache bringen.
Der 1964 in Graz geborene Künstler studierte zwischen 1984 und 1988 an der Akademie der bildenden Künste in Wien Grafik, absolvierte also nicht die berühmten Bildhauer- oder Objektkünstlerschmieden der Hauptstadt. Bereits 1989 findet die erste Ausstellungstournee im CulturCentrum Wolkenstein, in den Wiener Galerien Mana und auf der Stubenbastei sowie in der Galerie Klinger in Arnfels statt. Aus 1990 stammt das erste Kunst-und-Bau-Projekt an der Kinderchirurgie im Landeskrankenhaus Graz: die malerische Gestaltung der Bettwäsche. Seit damals stellte Reiterer im In- und Ausland aus, von Graz (Neue Galerie, Galerie Lendl) über Wien (Galerie Knoll), Rotterdam, London, Los Angeles, Düsseldorf (Galerie Michael Cosar), Hannover, Brüssel oder Kassel. Die bekanntesten österreichischen Preise wurden ihm zuerkannt, immer wieder wird er – eine Ausnahme ist das Kulturhauptstadtjahr Graz 2003 – für Projekte im öffentlichen Raum eingeladen.
Die Wertschätzung, die er dadurch erfahren hat und laufend erfährt, kommt nicht von ungefähr. Sein künstlerischer Ansatz konnte sich auch in einer immer uniformer werdenden internationalen Kunstszene als eigen-sinniger Beitrag durchsetzen. Es gibt wohl kaum eine Künstlerpersönlichkeit, die sich auf vergleichbare Weise zwischen den Bereichen des Profanen und Ästhetischen, zwischen dem Sinnlich-Materiellen und dem Gedanklichen bewegt und in einer ständigen Weiterentwicklung die Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums permanent herausfordert. Nicht weil es mit Kunststücken verblüfft, sondern mit seinem unmittelbaren Lebensraum und dessen Requisiten konfrontiert wird.
Mit dieser Haltung zählt Reiterer nicht zu den durchaus liebenswerten verqueren Außenseitern der Kunst, sondern zu jenen, deren Profil und deren Professionalität in der internationalen Strömung avancierter Kunst längst sichtbar und nachvollziehbar geworden ist.
Immer wieder hast Du auf Dich aufmerksam gemacht, schon lang hast Du Dich künstlerisch aufgedrängt, Werner Reiterer, hier und andernorts: Wir, die Jury, konnten und wir wollten nicht anders: Dich für den Kunstpreis der Stadt Graz nominieren.
Herzliche Gratulation.