2000 – 3
Artspace im Interface
Ich glaube, daß die heutige Unruhe grundlegend den Raum betrifft – jedenfalls viel mehr als die Zeit 1Michel Foucault, Andere Räume. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34 ff.
Die Klassifikation dieses Raumes erfolgt auf physikalischer, sensorischer und intellektueller Ebene, das heißt, daß von Anfang an geistige Überlegungen und Entscheidungen in diese Grenzfläche mit einbezogen sind. In eine Grenzfläche, auf der es das klassische Verhältnis von Figur und Grund als festgelegtes System nicht mehr gibt, sich also das Dargestellte aus dem Umraum, dem Systemraum, nicht mehr deutlich abgrenzen läßt. Diese aus der Bild- und Informationserzeugung bzw. deren Verarbeitung gewonnenen und nach mehreren Richtungen analysierten Erkenntnisse haben dazu geführt, auch die in der realen Welt liegenden Raumtypologien – die wesentlichsten wurden einleitend in einer auf das Ausstellungsprojekt bezogenen Auswahl anhand von entscheidenden Diskursansätzen beschrieben – auf ihre Interfacetauglichkeit respektive -notwendigkeit hin zu überprüfen und auf die für eine gesellschaftlich relevante Kunst bedeutsame Figur-Grund-Problematik hin zu untersuchen. Aus der Vielzahl der Künstler, die sich am Ende der neunziger Jahre in ihrem Werk vorwiegend mit Schnittstellen beschäftigen, weil sie in diesem Ansatz die entscheidende Möglichkeit künstlerischen Handelns erkennen, in der Weise vornehmlich, Auskunft über die Zusammenhänge zwischen den meist in separaten Systemen wirksamen Räumen geben zu wollen und dadurch im Bezug auf unser tägliches Wirken und Funktionieren eine über die Grenzen der Räume hinaus weiterreichende Orientierung zu schaffen, wurden beispielhaft 20 ausgewählt.
Ihre visuell und inhaltlich formatierten Statements lassen sich freilich nicht so ohne weiteres kategorisieren und ausschließlich für die eine oder andere Raumtypologie, gar in Form einer „Illustration“, gebrauchen. Aus diesem Grund ist auch die vorangestellte exemplarische Positionierung unterschiedlicher Räume nicht als verbindlicher Raster, sondern ausschließlich als Projektion zu verstehen, die in der Lage sein kann, das zentrale Thema dieses Projekts in das Ambiente einer aktuellen Kunstpraxis einzubinden, von deren schwerpunktmäßig räumlichen Determiniertheit aus2Vgl. Franz Xaver Baiers radikalen Raumbegriff und den Versuch von Werner Fenz, gegenwärtige mediale Schritte im Raum aufzuzeigen. Werner Fenz, Mediale Schritte im Raum – Bewegungen und ihre neuen Dimensionen. In: 2000 minus 3, ArtSpace plus Interface, Ausstellungskatalog, Neue Galerie Graz, Wien: Triton, 1997, S. 39. die Zuspitzung auf das Sichtbarmachen von Grenzflächen erfolgt. Ein künstlerischer Ansatz also, der als Art Überlebensstrategie für eine die magische Jahrtausendwende als gewichtiger Faktor mitgestaltende Kunst im dichten Netz der Räume unterschiedlichster und kaum noch überschaubarer Konfigurationen reklamiert werden kann. Der strukturelle Schwerpunkt liegt auf dem osmotischen Habitus im und jenseits des White Cube und auf den offenen „Flächenumrandungen“, die in die verschiedensten Richtungen ausfransen.
Mit der Entscheidung, den größten Ausstellungsraum der fünf gewählten realen Orte – das Künstlerhaus – in elf Kuben zu unterteilen, wurde ein wesentlicher konzeptueller Ausgangspunkt vorgegeben. In welcher Weise ist der klassische Präsentationsraum von Kunst in der Lage, innerhalb des angepeilten Interface-Phänomens das Konzept zu verwirklichen oder gar eine kathartische Rolle zu spielen? Internet-Installationen wie die des Künstlerkollektivs APSOLUTNO, die Produktpräsentation „Neu®“ von PROTOPLAST, der über Netz erfolgende Nachrichtenaustausch in Verbindung mit der „Tötung des Gebäcks Madeleine“ von Vadim ZAKHAROV, der auf einen funktionierenden Verkaufsstand zugeschnittene Beitrag von b_books/p=press oder „Comprehensive Waterfront Plan“ aus dem Produktionsansatz des „Unlimited Free Space“ von USI stellten den White Cube über die ihm in diesem Ausstellungskonzept dezidiert zugeschriebene Funktion, als Künstlerlabor zu dienen, hinaus auf eine in der unmittelbaren Praxis wirksame Probe mit interessantem Ausgang, und ließen von den Künstlern durchaus Reaktionen erwarten.
Die Gruppe b_books/p=press erbat sich einen Zwischen-Raum zwischen zwei weißen Kuben, um die Präsentation von CDs, CD-ROMs, Video-Clips, von Broschüren, Plakaten, Flyers, und MCs möglichst unprätentiös und „nicht abgeschlossen“ vornehmen zu können, wobei sie andererseits den vorgeschlagenen und möglichen Weg in eine Etage eines großen Innenstadt-Kaufhauses ablehnte, um im traditionellen Kunstkontext präsent zu sein und dort ihre Form des um eine funktionierende Distribution erweiterten Kunstbegriffs entsprechend wirksam werden zu lassen. Die Selbstbeschreibung des KünstlerInnen-Kollektivs läßt keine Zweifel über deren Ziele offen: „b_books = Buchladen, Veranstaltung, Verlag/Label, Versand. b_books als Vertrieb/Label/Verlag startet als offenes Projekt, d.h. es (b_books) entwickelt ihre Ziele erst im Verlauf + beginnt mit Einzelelementen: Zeitungsprojekten, die es gibt, Betaversionen, Copy-Ausgaben von nicht fertigen Büchern, Übersetzungen, Texten, Web-Seite als schneller Textumschlag, theoretisches Fernsehen“. Zentrum der Tätigkeiten ist nicht mehr das Atelier oder das Künstlerstudio, sondern der eigene Buchladen in Berlin. Im Ausstellungskontext wird das Kunstwerk durch „funktionierende“ Text- und Bildproduktionen ersetzt. Das heißt, als wesentliche Conclusio der Arbeitsmethode im Zusammenhang mit den vom Projekt „2000 minus 3“ aufgegriffenen Untersuchungsfeldern in Theorie und Praxis, daß hier nicht (mehr) die imaginäre Realität auf die reale Realität verweist, sondern daß diese jene in Form von politischen Kommentaren ersetzt, besser: konkretisiert: Publikationen mit unterschiedlichen gesellschaftspolitisch relevanten Inhalten – z.B. Die neue Linke, Feminismus usw. – werden vertrieben.
Die dafür gewählte Form ist der Buch- oder Messestand. Seine Ästhetik tut nicht mehr so, als würde sie etwas repräsentieren. Sie ist schlicht und einfach darauf ausgerichtet, Ware anzubieten, die gesellschaftliche und politische Phänomene aufgreift, beschreibt und abhandelt. Hier gilt es, eine metasprachliche, eine Theorie-Ebene zu verbreiten. Der visuellen Kunst in der Form des übersetzten Symbols, des veränderten und zum Kunstwerk gewendeten Emblems, des Objekts als Auslösefaktor wird als Gelenk hin zu brisanten Themenstellungen der Realität quasi das Vertrauen entzogen, Überzeugungsarbeit im gesellschaftlichen Bereich leisten zu können. Stephan Geene, ein Vertreter der Gruppierung, identifiziert sich mit einem Text von „BüroBert“, in dem es heißt, es gehe um „die Öffentlichkeit, die sich an Beteiligte richtet, nicht an ein Publikum.“3Vgl. Copyshop, Edition ID-Archiv: Berlin 1993, S. 40 Diese präzise, für die gesellschaftliche Reichweite mutierte Definition der Adressaten weitet die Interface-Debatte auf einen konkreten Bereich der Kommunikation unter dem Gesichtspunkt von Kunstpraxis und politischer Öffentlichkeit aus. Mit dem Auftreten im Ausstellungsraum ist diese Einschätzung ein Beitrag zu einem grundsätzlichen Kunstdiskurs und wird daher folgerichtig dort als Statement abgegeben, wo die Präsentation und Repräsentation von Kunst ihre traditionelle Heimat hat. b_books greift damit direkt das System künstlerischer Sprach- und Handlungsformen an und versucht es als „geschlossene Kommunikationsgesellschaft“ von Künstlern und Publikum zu entlarven und in Richtung des Beteiligungsanspruchs zu korrigieren.
Die intensivste Irritation durch den White Cube erlebte die US-amerikanische / österreichische Gruppe USI, die auf die Durchlässigkeit des Raumes nicht vertraute und eine Korrektur der Ausstellungsarchitektur anregte. Das ihnen zur Verfügung gestellte Raumkompartiment wurde durch das Entfernen von Trennwänden und den dadurch möglichen Blick auf die Bauart des weißen Gevierts dekonstruiert. Erst dadurch und durch die Entscheidung, in den Freibereichen zwischen den Kuben und beim Eingang des Künstlerhauses weitere Spuren auslegen zu können, schien für die künstlerisch Handelnden die Möglichkeit gegeben, das Konzept des „Unbegrenzten Raumes“, das sich weiter von einem fixen Raumpunkt zum anderen quer durch die Stadt zog, den eigenen Vorstellungen entsprechend zu realisieren. Die Gruppe USI (Unlimited Specialist International) hatte für ihr Grazer Projekt eine Art Raumtransfer vorgenommen – vom Becken Manhattans zur Mur – und diesen in intensiven dreitägigen Expeditionen – zu Fuß, mit dem Taxi und dem Boot – in New York vorbereitet. Dieser Transfer ist deshalb von Bedeutung und für die Authentizität der Arbeitsmethode unverzichtbar, da die drei Mitglieder von USI sowohl konzeptuell als auch in der Praxis davon ausgehen, daß es nirgendwo einen begrenzten Raum gibt, daß unbegrenzter Freiraum für alle da ist. Ziel sowohl des ersten Abschnitts in Manhattan als auch des zweiten entlang des Mur-Flusses in Graz war die Erkundung urbaner Peripherien und damit das grundsätzliche Überschreiten von Grenzlinien – von einer Zivilisation zur anderen. Die Erkundung abgelegener, verwahrloster, wirtschaftlich wie städtebaulich nicht mehr funktionierender Bereiche an den Rändern Manhattans wurde als Handlungsmodus nach Graz (vom theoretischen Konzept aus an jeden beliebigen anderen Ort der Welt) übertragen. In der zwar zentralen, aber wenig attraktiven Achse der Mur erkannte das Team ein Äquivalent zum zuvor erforschten Gebiet der amerikanischen Metropole. Ein Raum, der, fast unbemerkt im Bewußtsein, vorhanden ist, der das städtische Erscheinungsbild wesentlich mitbestimmt und dennoch weder einer gestalterischen noch einer „legalen“ Nutzung durch die Bürger unterzogen wird.
Die Idee, in Graz den Begriff des „Unlimited Free Space“ einzuführen, wurde mit einer städtischen Expedition, die die Künstler vorbereitet hatten und später mit dem Publikum gemeinsam durchführten, verknüpft. Ausgangspunkt war das Künstlerhaus, als einer der Räume von „2000 minus 3“, Endpunkt die Halle 878, Veranstaltungsort des Projekts „borderlines“4Vgl. borderlines Konzept, programmheft, steirischer herbst 97, Graz 1997, S. 44 – 45. , das zeitgleich, ebenfalls im Rahmen des Festivals „steirischer herbst“, veranstaltet vom Haus der Architektur, stattfand. Flyers und eine programmatische Zeitung im Agitationslayout warben sowohl um die Expeditionsteilnehmer als auch um eine Öffentlichkeit mit der Absicht, diese mit der Idee des unbegrenzten Raumes vertraut zu machen. Die Expedition mit den Künstlern und der Künstlerin startete in drei Nächten, Punkt Mitternacht, – später mußte sich das Publikum tagsüber allein auf die Reise machen – unmittelbar in der Ausstellung. Im Kunstraum erfolgten die Instruktionen und das Ausfassen der Ausrüstung, – Overall, Stirnlampen, Schwimmwesten, Feldflaschen, Kamera – die im unbenützten Zustand Zeichen in der Ausstellung waren. Die Nachtexpeditionen führten durch die Innenstadt zum Mursteg, wo die drei Dreiergruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ein bereitstehendes Boot der Feuerwehr abgeseilt wurden.
An mehreren Stationen ausgesetzt, um die beiden Murufer zu erkunden, an denen von USI zuvor ausgelegte Markierungspunkte zu passieren waren, die neu formatierte Zeichen ebenso umfaßten wie vorgefundene und weiters zu den verschiedensten Aktivitäten aufgefordert, endete das Abenteuer in den frühen Morgenstunden in der Halle am Grieskai. Dort konnten die Teilnehmer übernachten und zu Mittag ins Künstlerhaus zurückkehren, um sowohl die Ausrüstung zu retournieren als auch die Dokumentationen (Polaroids) und Fundstücke in den Ausstellungsbereich von USI einzubringen. Die Fotos wurden an der Wand oder an der äußeren Haut der „Umkleidekabine“ befestigt, Getränke und Salzgebäck standen vor Beginn und am Ende des Unternehmens zur Stärkung bereit.
Nach der Abreise des Künstlerteams lagen Anleitungen und Empfehlungen für die selbständigen Erkundungen auf: Für eine ultimative Erfahrung von Unlimited Free Space, so hieß es, empfehlen wir Gruppen zu je drei Personen. Bringen sie also zwei FreundInnen mit bzw. machen sie sich welche im Künstlerhaus. Die Erlebnismuster, die durch die Teilnahme an der Expedition zu gewinnen waren, wurden im propagandistischen Ton angekündigt: Unlimited Free Space wird häufig als eine Erfahrung erachtet, die in der Einsamkeit des Rückzuges geschieht. Unlimited Specialist International haben kürzlich entdeckt, daß niemand auf die momenthafte Einsamkeit in freier Landschaft bzw. in einer abgeschlossenen Zelle, jenseits eines Raumes der Begegnungen, zu warten braucht. Im Unterschied zu anderen Raumangeboten behaupten wir, daß Unlimited Free Space für jeden bereit steht – hier und jetzt! Folgen Sie dieser leicht zu handhabenden Gebrauchsanweisung Schritt für Schritt: erfahren Sie Unlimited Free Space!
Im Konzept von USI war die Stadt, oder besser: ein bestimmtes Segment einer Stadt, nicht nur als architektonisches Ensemble bzw. als Rand dieses Ensembles definiert, sondern als kultureller und sozialer Raum. So ist das Abenteuer einer nicht ganz risikolosen Begehung von peripheren Zonen als kommunikativer Akt der Orientierung im unmittelbaren Umraum einzustufen. Die Raum- und Erfahrungserweiterung kombinierte die traditionelle Spurensuche der frühen siebziger Jahre, bei denen der Künstler allein ein Terrain in seiner persönlichen Reichweite vermessen hatte, mit dem Maßstab einer kulturellen, vor allem aber zivilisatorischen Orientierung. Die gefundenen Spuren waren demnach auch nicht archetypische Fundstücke aus dem Bereich der Natur, sondern in erster Linie Weggeworfenes, Abfall, die entdeckten Wege, die über Jahre oder Jahrzehnte hinweg geschaffen wurden, nicht durch Erosion, Auswaschungen oder dergleichen entstanden, sondern Spuren, durch den „Gebrauch“ der Ufer von Unterschlupf Suchenden, von Abenteuerlustigen, von aus der Zivilisation Ausgetretenen ausgelegt.
Es ist unübersehbar, daß sich eine derartige Haltung auf einige der Wurzeln des „Internationalen Situationismus“ der 50er Jahre beruft. Diese Bewegung, die sich aus drei kleineren Gruppierungen – Internationaler Lettrismus (1952, Frankreich), Internationale Bewegung für ein imaginatives Bauhaus (1953, Italien) und COBRA (1948, Kopenhagen, Brüssel, Amsterdam) – zusammensetzte, hatte große, nicht nur kunstimmanente Ziele: So stellte sie unter anderem die moderne Kunst und die radikale Politik, als Verbindung fungierte das Vorzeichen der Utopie, sowie die unmittelbare Verbindung mit dem täglichen Leben und der Subjektivität des Individuums in den Mittelpunkt des Interesses. Einer der wichtigsten Begriffe war der der „konstruierten / herbeigeführten Situation“, die in der ersten Ausgabe der Zeitschrift als ein Moment des Lebens, konkret und überlegt konstruiert von der kollektiven Organisation einer Einheitsatmosphäre und einem Spiel von Ereignissen definiert wurde. Von diesen Wurzeln aus muß der Blick auf den Arbeitsansatz von USI gerichtet werden. Dann verwandelt sich auch der scheinbare Widerspruch zwischen ortsfest und ortlos, manifest im verwendeten Begriff „Space specific“ einerseits und im Namen der Aktivistengruppe „Unlimited Specialist International“ andererseits, in eine sinnvolle Strategie und kann – gewiß nicht nur eine Randerscheinung – auch folgerichtig die Ambitionen erklären, an zwei Veranstaltungen gleichzeitig teilzunehmen: nämlich an „borderlines“ und an „ArtSpace plus Interface“.
Hier wird eine, auch innerhalb eines Festivals fixierte Ausstellungsstruktur, entgrenzt und es werden, möglicherweise unterschiedliche, Systeme miteinander kombiniert und als „Situation“ zur Deckung gebracht. Die Analyse bestehender pragmatischer Situationen, in denen die Festschreibung der Fachbereiche Kunst und Architektur mit den jeweils dazugehörigen Produkten von internationalen Akteuren am Ende des Jahrtausends in spezifischer Weise wieder in sich aufgelöst und über die Grenzlinien hinaus erweitert werden, war auch für die beiden Ausstellungskonzepte von großer Bedeutung und hat zum Agieren von USI innerhalb beider Strukturen geführt. Eine anti-modernistische Befreiung des alltäglichen Lebens dient als These dieses künstlerischen Ansatzes, der sich gegen die Einengung durch Grenzen stellt und raumspezifisch die Begrenzung jeder Art von Räumen – exemplifiziert an einem bestimmten Raumsegment und den mit diesem in Verbindung gebrachten Situationen – aufhebt.
Während wir Vadim ZAKHAROVs Verknüpfung mit dem Internet vor der Diskursivität des White Cube deshalb nicht weiter verfolgen müssen, da sie nur eine zusätzliche Schnittstelle für input und output war, erweist sich die Installation von PROTOPLAST als ein im eigenen Werkbegriff mehrfach praktiziertes, grundlegendes Korrektiv der Ausstellungspraxis.
PROTOPLAST entwickelt und vertreibt nicht marktkonforme, nicht im Konsumsystem marktgestützte, das heißt, in Bezug auf dieses System – von dieser Definition aus – imaginäre Produkte und bewirbt diese, mehrfach auftauchend, in den verschiedenen Zwischenräumen einer Ausstellung, aber auch an den kommerziellen Werbe-Orten. Das Objekt/Produkt selbst, in kleineren Auflagen und in Form von beispielsweise Kartons, Tragtaschen aus Papier oder – wie in Graz – Uhren durchaus existent, ist nicht die eigentliche künstlerische Arbeit. Diese ist die Vermarktung der schlicht und einfach designten Produkte, die in ihren Marken-Namen, Heil®, Light®, Neu® oder Beuys®, Duchamp®, Matisse®, Picasso®, Tinguely®, Warhol®, eine Semiotik des Produktmanagements bereits tautologisch vorwegnehmen. Mit dieser im Mittelpunkt stehenden und als Parameter der Arbeit eingezogenen Ebene fügt sich das Künstlertrio in ein System der Distribution, das allgemein bekannt ist und dem wir tagtäglich ausgesetzt sind. Hier ist die Methode des Über- oder Unterschreitens der Differenzschwelle – die materialisierte künstlerische Idee gleicht sich mehr oder weniger den Objekten oder der Ästhetik aus dem Alltag an – Inhalt und Form in einem. Diese Übereinstimmung zeichnet die Arbeiten als signifikanten und unverwechselbaren Beitrag zum Diskurs der Referenzialität zwischen Kunst und Realität aus.
In dezidierter Weise wird darüber hinaus ein spätestens seit den 60er Jahren virulentes Phänomen in der Kunstdiskussion wie in der Gesellschaftstheorie zum selbst gestellten zentralen Arbeitsauftrag formuliert: Kunst als Ware, als Handelswert. Nicht nur durch die Flucht der Künstler aus dem Kunstraum in den urbanen oder Landschaftsraum, durch die Herstellung ortsspezifischer Installationen, die ihre ausschließliche Bedeutung aus dem Dialog zwischen Ort und Intervention bezogen – inklusive der Auftragsarbeiten im öffentlichen Raum oder für „Kunst und Bau“ – war die Ware Kunst ein viel diskutiertes Thema im bestehenden und zur Anwendung kommenden System des künstlerischen Handelns und seiner Repräsentation. Konzeptkunst, Body Art oder Performance haben auch in den Kunsträumen selbst die Domäne des Handelswerts mehr oder weniger bewußt und gezielt in Frage gestellt. PROTOPLAST macht diese ausgesprochenen oder unausgesprochenen Fragen zum Thema ihres Arbeitsbereiches. Man kann sich diesem, auch über den inneren Kern der Kunst hinaus, von verschiedenen Seiten nähern. Zum Beispiel von Seiten der Naturwissenschaften, wenn diese behaupten, daß die Welt der Materie in ihrem Kern eine Illusion sei. Denn genau diesen Umstand setzt die PROTOPLAST-Aktionsgesellschaft als Strategie ihres Unternehmens in der Branche Kunst ein. PROTOPLAST produziert Verpackungen für Vorstellungen, Denkfelder, Gefühle, Erinnerungen, Phantasien. Warenhändler, die ihre Produkte als funktionale Materie betrachten, wollen diese möglichst billig verkaufen. PROTOPLAST hingegen setzt auf den Mehrwert der Imagination, auf die Ausdehnung des materiellen Kerns in immaterielle Denk- und Empfindungswerte. Ein weiteres Gelenk der Arbeitsmethode bezieht sich auf unsere mediatisierte Gesellschaft. Hier laufen die Beschreibungs- und Wertungsmöglichkeiten vor der Projektionsfläche einer immer virtuelleren Welt ab.
Obwohl oft ausschließlich als subversive Struktur in Kontrast zur Konsumgesellschaft rezipiert, sieht PROTOPLAST ihre Legitimität in der Alternative zur Warenwelt angesichts der Tatsache, daß elektronische Impulse dem Waren-Tausch-Handel mehr und mehr den Rang ablaufen. In der formalen Strategie siedelt sich die Künstlergruppe unmittelbar an der Schnittstelle zwischen Kunst- und Realraum an. Durch das gleichzeitige Bespielen beider System-Räume – im Kontext der Ausstellung und der öffentlichen Werbung – wird der eine wie der andere Raum ambivalent und verweist auf die ihm jeweils eigenen Strukturen. Diese werden sichtbar und kongruent visuell bezeichnet. Was auf der einen Seite, der Seite des sogenannten zweckfreien Galerie- oder Ausstellungsraums, zu mehrfachen Interventionen mit der Ästhetik und dem Vokabular der Konsum-Überzeugung erfolgt und dadurch ein bislang als hermetisch ausgewiesenes System verstört, entpuppt sich auf der anderen Seite, der Seite des nicht zweckfreien Ankündigungs- und zielgerichteten Informationsraums als Placebo, dem nicht nur der Inhalt, sondern das eigentliche, also in der Ausgerichtetheit und Dimensionierung systemdeterminierte, Waren-Objekt fehlt.
APSOLUTNO konnte beim Projekt „Absolute Sale“ den White Cube durch seine Verwandlung in eine Black Box ohne weiteres akzeptieren. Die beiden beleuchteten Oberflächen, die Horizontale als Arbeitsfläche für die Mouse, die Vertikale als Projektion des von der Mouse gesteuerten Internet-Programms, bildeten – bei der Projektion in der Ausgangsstellung – die Landkarte Europas ab, in die die osteuropäischen Länder als gelbe Territorien eingetragen sind. Nach Aufruf des Programms nahm der Benutzer an der Auktion von Werken osteuropäischer KünstlerInnen teil. Geleitet von einfachen Befehlen, konnte er sich im komplexen und eleganten Sprachstil eines nicht näher bezeichneten Auktionshauses bewegen. Mit betonter Höflichkeit und Weitschweifigkeit wurden ihm die Bedingungen zur Kenntnis gebracht, bis hin zur Aufforderung, sich nun an dem Geschäft zu beteiligen. Eine Kurzcharakteristik der KünstlerInnen gab über deren Spezialgebiet – Malerei, Plastik, Grafik, Schmuck, Gesang, Musik – sowie über Herkunftsland, Alter, Religion, Stand und gesundheitliche Risikofaktoren Auskunft. Erst beim Alter wurde die Simulation offenkundig, da alle weiblichen und männlichen Personen erst nach der Jahrtausendwende geboren werden, ein Kauf der angebotenen Werke demnach zur Zeit unmöglich ist, eine Reservierung aber dennoch empfehlenswert sei. Freilich wird der Interessent darauf hingewiesen, daß das Bieten auch mit Risiko verbunden sein kann, obwohl das Schicksal dieser Künstler bereits vorbestimmt und in der Datenbank abgespeichert ist, wenngleich es auch keineswegs verläßlich sein muß.
APSOLUTNO, die Datierungen ihrer Projekte immer in Bezug zum Jahr 2000 vornehmen, „Absolute Sale“, 1997:2000, setzen hier als methodischen Ansatz eine Zeit- und Raumzäsur ein. Die Grenzlinie verläuft auf der Kartographie zwischen Westen und Osten nicht als vertikaler Einschnitt, sie verläuft zwischen den Systemen von Kultur und Politik. Hochspezialisierte Mechanismen, die sich in erster Linie im marktwirtschaftlichen Bereich ausgebildet haben und die nach der geopolitischen Neuordnung nun als kulturelle Demarkationslinien interpretiert werden, verhindern in Wahrheit das, was als Öffnung politischer und nationaler Strukturen propagiert wird. Die Metapher der Kunstauktion verweist dabei auf ein im Grunde vorhandenes, wenngleich konkret in die Zukunft projiziertes Potential, das sich in der Simulation aus diesem Faktum nicht nützen läßt, realpolitisch aber in den noch immer nicht durchlässigen Systemgrenzen seine Ursachen hat. Bezeichnend ist, daß in der Internet-Arbeit die Bilder verborgen bleiben (müssen) und nur als virtuelle Möglichkeitsform mit Einschränkung durch Fehlerquellen existieren. Das einzige auftauchende Bild malt die Flächen von gesellschafts- und wirtschaftspolitisch gänzlich unterschiedlichen Hemisphären in den kontrastreichen Farben grau und gelb. Der Status quo wird bildhaft, das eine wie das andere System teilt sich über die sprachliche Formulierung des Auktionshauses bzw. über das Datenmaterial des zukunftsträchtigen Partners, der „Posten“ anzubieten hat, mit.
Die zweite Arbeit, die eine ausgekoppelte Realisation aus dem größeren und seit 1996 bearbeiteten Untersuchungsfeld „Human“ ist, siedelte APSOLUTNO im öffentlichen Raum an. Ein den internationalen Verkehrszeichen für „Grenzübertritt“ nachgebildeter Aufkleber wird textlich mutiert und an den Grenzen zwischen westeuropäischen und osteuropäischen Staaten temporär aufgestellt. Im oberen Halbkreis ist die internationalisierte Bezeichnung „Human“, im unteren der entsprechende Begriff in der jeweiligen Landessprache des „Ostens“ zu lesen. Dieses so geschaffene Emblem, aus dem normativen Zeichengebrauch herausgehoben, vermenschlicht im Gegensatz zur begrifflichen Ebene die Grenzziehungen nicht, sondern verstärkt sie durch das Zusammenspiel von bildlicher Konfiguration und Text. In Graz wurden an rund 50 Orten in der Innenstadt an den weltweit traditionellen Kommunkationsinseln, den Telefonzellen, neben den Hinweisen auf „Kartentelefon“, „Behindertenzelle“, „Kostenloser SOS-Ruf“ oder „Rückrufzelle“ Logos mit der Aufschrift Human/Mensch, also sprachlich auf den Aktionsort bezogen, angebracht. Im Inneren ergänzten Klebefolien mit einer farbigen Kartographie der Teilung Europas in eine West- und Osthälfte sowie mit den Vorwahlnummern aller osteuropäischen Länder den geläufigen Informationsstandard.
Die Markierung des politischen Raums im engeren Sinn erfolgte im Rahmen von „2000 minus 3“ bezeichnenderweise ausschließlich durch KünstlerInnen aus Jugoslawien, Rußland oder Rumänien. Der vor allem über Bilder – „High-Tech-Glanzfilme“ – verfügbare grenzenlose Mobilitätsraum ist die Grundlage für den Themenschwerpunkt der russischen Künstlergruppe AES. Für eine große Zahl russischer Künstler, vor allem in den Zentren Moskau und St. Petersburg, war und ist die Auseinandersetzung mit den politischen Bedingungen, unter denen oder gegen die Kunst entstehen konnte sowie mit der durch die machtpolitische Situation bedingten Ästhetik ein zentraler Arbeitsansatz. Das Akzeptieren dieser Ästhetik – wertfrei, ohne sie weiter fortzusetzen oder zu propagieren – als Folie realer Realität bestimmt eine Reihe von bekannten künstlerischen Beiträgen, die in den Arbeiten von so wichtigen Persönlichkeiten wie Ilya Kabakov, der Gruppe der „Medical Hermeneutics“, von Vadim Zakharov oder eben AES deutlich ablesbar ist. Die Werkgruppe „Travel Agency to the Future“ bedient sich in erster Linie der Poster- und Postkarten-Ästhetik und sucht – als zweiter Schritt – diesen geläufigen Reproduktionen einen ebenso geläufigen, durchaus in Gebrauch befindlichen, Präsentationsraum hinzuzufügen: in diesem Fall ein Reisebüro, als das sie den Kunstraum mit einigen Versatzstücken typisierten.
So lang es ihre Zeit erlaubt, agieren die Mitglieder der Künstlergruppe selbst als „menschliches Inventar“ dieser Installation: als Angestellte dieses Reisebüros, in dem das Begehren nach Reisen in die wichtigsten westlichen und östlichen Metropolen geweckt werden soll. Wir sind Zeugen des Sieges der technischen Zivilisation. Die Welt verändert sich vor unseren Augen, und ein High-Tech-Glanzfilm überzieht die Welt, verwandelt Menschen in „Touristengestalten“ und macht Kairo so leicht erreichbar wie etwa Moskau und New York. Es hat den Anschein, die Welt könnte in 10 bis 20 Jahren aussehen wie eine Serie touristischer Ansichtskarten von Sehenswürdigkeiten – national in der Form und post-industriell im Inhalt – und so scheint die Geschichte nunmehr endgültig vorbei zu sein…(AES). Wenn Geschichte vorbei ist, dann sind Gegenwart und Zukunft aktuell. Mit den computergenerierten Veränderungen der gesammelten Vorlagen – es handelt sich dabei nicht um selbst produzierte Fotos der KünstlerInnen, sondern immer um vorhandene Standards – zielt das Werk auf die Angst des Westens vor dem fundamentalistischen Terror.
Die islamische Kuppel auf dem Dach der Wiener Staatsoper oder als Bekrönung des Grazer Uhrturms (die beiden Arbeiten wurden speziell für die Ausstellung entwickelt) machen sichtbar, wie die wichtigsten „view points“ der Welt unter der Herrschaft einer fremden Kultur aussehen könnten. In diesem im Computer durchgeführten Verfahren – der Computer steht dabei sowohl für die weltweit abrufbare Datenbank als auch für die virtuelle Realität, die im „Bearbeitungsmodus“ vor der Authentizität der Bildrealitäten nicht mehr Halt macht – dominiert eine mehrschichtig angelegte Invention, die sich aus idyllischen, heiter-ironischen, dekonstruktiven, Macht demonstrierenden, die ästhetische Realität korrigierenden und in reizvolle phantasmagorische Bilder überführenden Elementen zusammensetzt.5 Der Bazar vor dem Pariser Centre Pompidou und die mit orientalischen Teppichen verhängte und dadurch „korrigierte“ funktionalistische Fassade kann dafür ein weiteres präzises Beispiel sein AES vergleichen ihre Methode der auch als „Islamic Project“ bezeichneten Werkgruppe mit der der Psychoanalyse: Visualisierung von Komplexen und Phobien, um diese an der Wurzel zu packen. Die groteske virtuelle Realität einer „Neuen Welt“, wie sie im Reisebüro „Zukunft“ vorgestellt wird, sei lediglich das Produkt einer Interaktion zwischen Künstler und Computer und habe wenig Hoffnung, jemals realer zu werden als der „Krieg der Sterne“. Vor einem künstlerischen Beitrag wie dem von AES haben wir uns die Frage zu stellen, in welchem Zusammenhang er mit den historischen und auch gegenwärtigen Bildbotschaften politischer Propaganda steht. Im Zentrum der Überlegungen könnten beispielsweise die 30er Jahre stehen, in denen nicht nur politische Figuren als Porträt auftauchen, sondern die Ideologie, für die sie stehen, visualisiert wurde: sowohl die herrschende Ideologie als auch der Widerstand gegen diese. Mit Live-Fotos wie mit Collagen werden Bilder produziert, die jeweils eine Projektion in die eine oder andere Richtung auslösen. Wenn sich AES auf die Standards der Tourismusbranche konzentrieren, ist diese Vorgangsweise als Paradigmenwechsel, ausgelöst durch unsere mediatisierte Gesellschaft, zu bewerten.
Auf Postkarten und T-Shirts zitiert eine kleine, aber bestimmende Intervention, weiße Schrift auf grünem Schild, mit der Jahresangabe und dem Ort zusätzlich und mit nachhaltigem Bewußtsein für die Auswahl des Zitats die Werbecampagne einer Firma, die weltweit mit „United Colors“ und ungewöhnlichen Bildmotiven wirbt. Diese Idee der Vereinigung wird in den Bildwerken von AES mit kulturellen Versatzstücken und Motiven aus dem „täglichen Leben“ vorexerziert. Da die Arbeit von AES weit in den kulturellen und politischen Raum hinein reicht, dürfen und müssen wir uns die Frage nach der „political correctness“ stellen. Lev Evzovitch beantwortete sie folgendermaßen: Das Leben selbst verläuft auch nicht politisch korrekt. Weshalb sollte es die Kunst dann schon sein? Politisch korrekt zu sein ist allzuoft eine Form von Zensur. Ich meine, daß unser Projekt auch eine humorvolle und komische Seite besitzt, die den Menschen dabei behilflich sein könnte, sich aus dem lästigen Konfliktgeschehen zwischen dem Westen und den islamischen Ländern herauszuhalten.
Dieses Statement steht zur Arbeitsweise eines Hans Haacke zum Beispiel in diametralem Gegensatz, kann aber die Annäherung einer wesentlich jüngeren Generation an das Phänomen der politischen Korrektheit deutlich machen. Die Gestaltung im politischen Raum läuft hier auf einer anderen Ebene ab: Sie spielt mit der Angst vor dem islamischen Fundamentalismus auf eine Art und Weise, die direkt einem Lehrbuch über den Widerstand gegen die von Bildern angeregte und ausgeübte mediale Konsumations- und Kontrollebene entnommen scheint. Anti-Mythos kontra Mythos, manipulierte Collage gegen Manipulationscollage. Das heißt, die gängigen Verfahren werden in der Zuspitzung auf eine ins Bild gesetzte Bedrohung aufgedeckt. Letztlich kann „Travel Agency to the Future“ zeigen, daß jedes beliebige Bild – mit entsprechenden Konnotationen der Angst, des Vorurteils versehen – produzierbar ist und auf der Ebene eines bestimmten ästhetischen Standards, dem „offizieller“ Postkarten und Poster, eine gültige und verbindliche Wirkung zu entfalten imstande ist. Das heißt, daß die Welt über das Medium geläufiger und „anerkannter“ Reproduktionen nach dezidierten Vorstellungen interpretierbar und damit zusätzlich die Frage nach der Authentizität und deren Manipulation in dieser Arbeitsmethode inkludiert ist. Voraussetzung für den Wirkungsradius solcher Bildproduktionen ist die „ästhetische Gültigkeit“, erreichbar über das Aufgreifen bestimmter Muster und deren professioneller Umsetzung.
Das rumänische Künstlerduo subREAL ist in seiner künstlerischen Methode durch ein zehntausende Schwarz-Weiß-Fotos umfassendes Archiv der rumänischen und internationalen Kunstgeschichte geprägt. Als (vorübergehende) Herausgeber der einzigen rumänischen Kunstzeitschrift ARTA, die über drei Jahrzehnte existierte und 1989 eingestellt wurde, haben sie das Fotoarchiv dieser Zeitschrift in ihren Besitz genommen. Es ist aber nicht allein der Zeitraum, den sich subREAL über die Bilddokumente angeeignet hat, es ist die in den Zeitdimensionen aktivierte Lesart bestimmter über die Reproduktion eingespielter Realraum-Zonen. Diese Lesart entwickelte sich über den ästhetischen zum politischen und historischen Kontext und spielt in der heutigen, durch Bildinformation weitgehend bestimmten Gesellschaft die bisher bedeutendste Rolle. In ihrem Präsentations- und damit Darstellungsverfahren folgen die Künstler grundsätzlich den Beurteilungskriterien, die auf allen denkbaren Ebenen zwischen Zentrum und Peripherie unterscheiden. In den häufig standardmäßig gewählten Bildausschnitten, die auf das Wichtige, das Zentrale zielen, wird das Periphere unterdrückt oder ausgeblendet. Am Rand aber kann, wenn nicht sogar größer, die Dichte der Information zumindest gleich groß sein. Von diesen Überlegungen ausgehend zerschneiden subREAL die ausgewählten, oft stark vergrößerten Fotos in Bildbahnen und ordnen diese um ein leeres Zentrum an.
Abgebildet ist nun nur mehr das Ambiente des einst zentralen Objekts: in konkreten Beispielen aus dem Archiv die Fragmente des Ateliers eines Künstlers oder ein die im Mittelpunkt der Präsentation stehenden Werke umgebender Ausstellungsraum. In den Randzonen findet nun die Markierung des kultur- und kunsthistorischen, aber auch des gesellschaftlichen und sozialen Hintergrundes statt. Die Zeit/die Umstände, die dem Objekt vielleicht nicht auf den ersten Blick anhaften, haften seinem (Re)Präsentationsraum an, der Lebensraum/die Lebensbedingungen werden durch scheinbar unwesentliche Versatzstücke, die durch die Fragmentierung der Bildfläche in das Blickfeld rücken, eingespiegelt. subREAL hat auf diese Weise eine Bilddatei der „anderen Art“ aufgebaut, die den aktuellen Status von Datenbanken relativiert und in ihrer Einzigartigkeit in Frage stellt. Durch die äußere Form der Dekonstruktion von Bildvorlagen baut sich ein sichtbares Netzwerk von Subinformationen auf, die historische und nunmehr auch aktuelle Phänomene in Form nicht standardisierter Parameter vermessen. Die Beobachtung und die Analyse des Standards von Bildinformationen bringt neben dem politischen auch das mediale Moment ins Spiel. Durch die Auflösung der Kategorisierung von Bild- und Darstellungsnormen bzw. durch das Lesbarmachen der Entwicklungsformen dieser Kategorisierungen wird ein Zeitprofil von der Gegenwart in die Vergangenheit erstellt. Dabei ist eben diese Laufrichtung der Betrachtung von Bedeutung.
Nur aus der gegenwärtigen Praxis des Gebrauchs und des Verbrauchs von Bildern in der Darstellungs- und Bedeutungskonstellation gewinnt dieses Datenarchiv seine besondere Position als künstlerischer Gestaltungsmodus. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die enorme Summe gegenwärtiger Bildproduktionen und die jederzeitige Verfügbarkeit von Bildern in allen gesellschaftlichen Bereichen, von der Wirtschaft bis hin zur Kunst, das Verfahren von subREAL angeregt und zur klaren Positionierung gebracht hat. Ebenso deutlich wird der Verlust ganzheitlicher Informationsstrukturen thematisiert, die eine sich permanent bis ins präzise, kleinste Detail erweiternde Abrufbarkeit von Datenmengen ablöst. Im vorliegenden dekonstruktiven Gestaltungsmodus von Bildvorlagen läßt sich scheinbar ein ähnlicher Modus erkennen – in Wirklichkeit verweisen die aus dem Ganzen isolierten Subinformationen mehr als zuvor auf das Ganze.
Die Internet-Debatte, die in einer kritischen Auseinandersetzung mehr und mehr und unter verschiedensten Blickwinkeln die künstlerischen Arbeitsmethoden innerhalb der „Organisation von Macht in der immateriellen Sphäre“6Vgl. Geert Lovnik und Pit Schultz, Aufruf zur Netzkritik. In: Netzkritik. Hrsg. von Dettima, Ed. ID-Archiv, Berlin 1997, S. 6 -7. beleuchtet, war im Projekt „2000 minus 3“ mit drei Arbeitsansätzen vertreten. Während APSOLUTNO das Netz als modernes Kommunikationsmittel im Sinne von Telebanking einsetzte und darauf ein von wirtschaftspolitischer Realität ausgehendes Betrachtungsmodell politischer Grenzen projizierte, positionierten die Beiträge von Markus HUEMER und ALIEN PRODUCTIONS (Andrea Sodomka, Martin Breindl, Norbert Math) den Real- und den Netzraum als einen Sachverhalt unterschiedlicher Raumzugänge und -erlebnisse, wobei die Erfahrung des physisch anwesenden Betrachters, diesseits oder jenseits der Grenze heute bestimmender Raumgrößen, markiert wurde.
Markus HUEMER rechnete in „If (Subjekt = virtuelles Subjekt ; Symbolkultur? ; 0)“ die reale Position des Ausstellungsbesuchers im Raum in eine durch ihn ausgelöste und dann fixierte Punktposition im Netz um. Dazu ordnete er folgende Elemente an: fünf auf Podesten stehende Frankfurter Küchenstühle, auf denen verschiedene geometrische Farbflächen zu sehen sind, eine Videoprojektion mittels Beamer, eine Video-Überwachungskamera in einer Raumecke sowie ein Rechner, der mit dem Netz verbunden war und Zugriff auf dort abgelegte Daten ermöglichte. Die Stühle waren, jeweils abhängig von ihrer räumlichen Anordnung, nach einem bestimmten konstanten Lichteinfall lackiert. Der Schatten wurde also in eine dunklere Lackfarbe übertragen, die als Lichtflächen ausgewiesenen Teile der Stühle blieben unbehandelt. Nach dem Produktionsvorgang des ersten Stuhls in seiner Anordnungssituation wurde der zweite zum gleichen Lichteinfall um 60 Grad gedreht. Und so weiter. Die Anzahl der Stuhllackierungen nahm aus der Leserichtung von links nach rechts oder von vorn nach hinten zu. Die im Raum installierte Video-Kamera erfaßte die temporären Bewegungen des Einzelnen, ausgelöst durch das Betrachten der als Objekte auf ihren Podesten hervorgehobenen Stühle.
Die Videoprojektion zeigte einen im Computerframe eingespielten Text, der sich von Zeit zu Zeit veränderte, und als „icon“ am unteren Bildrand die Position des Betrachters im Raum. Sobald die Kamera das betrachtende Subjekt im Raum erfaßte, wurde dessen Standort im realräumlichen Raster in den Netzraster umgerechnet und damit der Ausstellungsraum mit dem virtuellen Raum verknüpft. Die Lokalisierungen der Positionen im Raum wurden ständig in eine IP-Adresse verarbeitet (IP-Adresse = Netzadresse, der temporäre, virtuelle Standort eines Computers, welcher an das Internet angeschlossen ist). Die Umwandlung erfolgte mittels stark gerasterter Bilder (die schon genannten „icons“), aus denen der Computer die Vektoren filterte, um dann die IP-Adressen zu generieren. Im Netz war ein Textgenerator eingerichtet, dem eine Datenbank mit einem Textpool aus Jaques Derridas „Dieses gefährliche Supplement“ zugrunde lag. Über Signale, ausgelöst durch die Bewegungen im (Ausstellungs)Raum wurde ein Satz aus der Datenbank grammatikalisch sinnvoll erarbeitet, dabei aber in die Möglichkeitsform gebracht. Je weiter der Weg war, den das Signal im Netz zu den errechneten Adressen zurücklegen mußte, desto länger war der dazu generierte Text.HUEMER nutzt und aktiviert das Internet sozusagen über den Umweg der im Realraum stattfindenden Bewegungen. Diese Methode schließt den traditionellen Internet-User aus und ersetzt ihn durch den Ausstellungsbesucher, der sich „textbasiert um die Ausstellungsobjekte bewegt“ (HUEMER). Die Dateneingabe und daran gekoppelt die Daten-Abfrage erfolgt nicht über Funktionstasten und Mouse-Click, sondern über einen realen, an einem anderen Ort stattfindenden Bewegungs- und in diesem Fall auch Steuerungsvorgang. Damit thematisiert HUEMER die unterschiedliche Konstitution der vorgeführten Räume, er bindet die „Leibhaftigkeit“ von Personen als Steuerungsfaktoren in den Datenraum ein und ersetzt dadurch den rationalen Zugriff. Ein weiteres Phänomen dieser Installation besteht darin, daß die über den Netzraum ausgefilterte sichtbare Spur der Bewegung sich nicht in einem Diagramm oder in einer anderen grafischen Spur äußert, sondern über eine textbasierte Semantik.
Eines der zentralen Kommunikationsinstrumente des Menschen, die Sprache und in weiterer Folge der Text dienen dazu, seine spezifische Spur nachzuzeichnen. Der Mensch wird, da sonst keine Bewegung im Raum simuliert oder gerechnet wird, zum Akteur hier wie dort: im realen und im virtuellen Raum. Die Programmiersprache reagiert auf seine Anwesenheit in der leiblichen Dimension. Dies ist das Besondere an diesem Rechenvorgang wie dem dadurch ausgelösten Übertragungsmechanismus. Der Transfer von einem Raum in den anderen bestimmt die Überlegungen zu dieser Arbeit. Sie macht damit sichtbar, in welchen Konstellationen diese Räume zueinander stehen können und innerhalb welcher Regelsysteme sie funktionieren. HUEMERs Beitrag könnte – ohne daß eine direkte Abhängigkeit in Erwägung gezogen wird – eine modellhafte Antwort auf Vilém Flussers zentrale Frage Warum trügt eigentlich der Schein? Gibt es etwas, das nicht trügt? Vor unseren ungläubigen Augen beginnen alternative Welten aus den Computern aufzutauchen: aus Punktelementen zusammengesetzte Linien, Flächen, bald auch Körper und bewegte Körper … Warum mißtrauen wir eigentlich diesen synthetischen Bildern, Tönen und Hologrammen? Warum sind sie für uns nicht real? Die vorschnelle Antwort lautet: weil diese alternativen Welten eben nichts anderes sind als komputierte Punktelemente, weil sie im Nichts schwebende Nebelgebilde sind. Die Antwort ist vorschnell, weil sie Realität an der Dichte der Streuung mißt und wir uns darauf verlassen können, daß die Technik künftig in der Lage sein wird, die Punktelemente ebenso dicht zu streuen, wie dies bei den Dingen der uns gegebenen Welt der Fall ist.7Vilém Flusser, Digitaler Schein. In: Vilém Flusser, Medienkultur, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch, 1997, T3. S. 202 – 203.HUEMER geht über die Real-Definition Flussers, der Sein und Schein durch die Punktdichte unterscheidet, hinaus. Er siedelt den Betrachtungsvorgang zwischen verschiedenartigen Raumtypologien an, wobei der eine Typus auf den anderen antwortet. Die Bewegung erfolgt aus dem realen Raum, die Beschreibung aus dem virtuellen, wobei diesem mit dem philosophischen Text signifikante Instrumentarien aus dem traditionellen, dem menschlichen Denken bisher genuinen Kommentarraum zugrunde gelegt werden.
Die von Sodomka/Breindl/Math unter der Produktionsfirma ALIEN PRODUCTIONS veröffentlichte Arbeit mit dem Titel „Embedded Systems“ stellte ein komplexes Netzwerk aus technologisch geprägten Alltagsrealitäten in Objektform, aus dem interaktiven Web-Raum, aus der Kapazität von Programmiersprachen und deren einerseits räumlich erfahrbaren, andererseits von den Steuerungselementen aus betrachtet ausgelagerten Raumsituation her. Konzentriert wurde dieses ineinandergreifende, von unterschiedlichen Vektoren bestimmte neue Raumsystem auf die Intelligenz trivialer Alltagsgegenstände, die wir täglich, vor allem im Haushalt, verwenden. Ursprünglich für eine zugängliche Wohnung geplant, wurde die Installation letztlich im Innenstadt-Kaufhaus Kastner + Öhler verwirklicht. Der Ortswechsel führte nur graduell zu einer Verschiebung des Konzepts. War zuerst das Ambiente des Gebrauchs als ortsspezifisches Charakteristikum von Bedeutung, so konzentrierte sich in Folge der Schwerpunkt auf den Handelsort dieser Objekte. Eine Nähmaschine, ein Küchenblock mit den üblichen Gerätschaften, Licht- und Tonanlagen wurden über die eingebauten Chips neu programmiert. Das Team ging von der Tatsache aus, daß die in den Chips angelegte Intelligenz in der tatsächlich ausgeführten Tätigkeit bei weitem nicht voll ausgereizt ist. Die neue, weitaus umfangreicher einsetzbare Programmiersprache „Java“ sollte dem Abhilfe verschaffen. ALIEN PRODUCTIONS hat zwei unterschiedliche Setups aufgebaut: einmal die erweiterte Programmierung der Geräte, die sie aus ihrem standardisierten Gebrauch befreit, ihnen neue, ungewöhnliche Funktionen zuordnet und sie auf ihrer Intelligenzebene, der elektronischen, untereinander vernetzt. Zum anderen die Übertragung dieses symphonisch entwickelten Steuerungssystems ins Internet, wo ein Eingriff in die einmal festgelegte Partitur möglich war. Die Betrachtung der Installation war demnach in zwei Raumbereiche aufgesplittet worden: in den einen am Ausstellungsort selbst und in den anderen im Internet, also in einen realen, vor Ort einsehbaren, aber nicht steuerbaren, und in einen virtuellen, nicht einsehbaren, aber interaktiv gestaltbaren Bereich.
„Embedded Systems“ stellte sich als eine Realfiktion heraus, die eine Netzwerksituation inszeniert, in der viele Einzelintelligenzen kommunikativ interagieren. Der Internet-User ist dabei keine über-, sondern eine gleichgeordnete Intelligenz. Er bewirkt in etwa gleich viel wie die Waschmaschine oder der TV-Apparat. Er befindet sich in eben dieser Realität. Ganz im Gegensatz zum Besucher der realen Installation, der dieser Realität nur ausgesetzt ist. Obwohl physisch präsent, ist er der Einzige, der außerhalb der kommunikativen Möglichkeiten bleibt und somit außerhalb der Wirklichkeit. Nicht Zugriff zu haben auf das Informations- und Datennetz bedeutet, von der Realität ausgeschlossen zu sein. Man kann Vorgänge zwar beobachten, diese aber nicht beeinflussen. In der ständig umfangreicher und vielschichtiger mediatisierten Welt stellt der Zugang zu Informationsstrukturen und Nachrichtenübermittlungen den entscheidenden Faktor des Raumerlebnisses und der Partizipation an der Formatierung unserer heutigen Räume dar. ALIEN PRODUCTIONS hat solche Formatierungen in einem lustvollen und spektakulären Spiel aufgezeigt. Ihre Nachrichten sind Nachrichten über Systeme, die im angewandten Modus ihr Alltagsgesicht zeigen (können). Die praktischen Erfindungen, die in Versandhauskatalogen als Erleichterung der Organisation des täglichen Lebens angepriesen werden und im wesentlichen auf geschickter „erfinderischer“ Ausnutzung des enormen elektronischen und digitalen Potentials basieren, bildeten einen aus der Praxis gegriffenen Auslösefaktor. Von ihm ausgehend wurde die partizipatorische Ebene des Nutzers reflektiert und in eine System-zu-System-Beziehung eingeloggt. Eine systemische Bewußtmachung stellte sich im gewählten Übertragungsmodus ein.
Im vor Ort verwehrten Zugriff auf die Funktionalität der Objekte spielte das Team, wie man vorschnell meinen könnte, weder die Rolle des Zauberlehrlings, der im Steuerungssystem alle Register gezogen und nun die Bescherung, die er angerichtet hatte, präsentierte, noch schlüpfte es in die Gestalt eines Science-Fiction-Autors, der die drohende und nicht mehr beherrschbare Übermacht der Mikrowelle oder des Staubsaugers über das Menschengeschlecht ausformuliert. Die Verselbständigung der Gebrauchsgegenstände, ihr Aus-der-Rolle-Fallen entpuppte sich als Schauspiel in Parabelform. Der Seitenwechsel von einem Raum zum anderen und die Frage nach der wo und wie konfigurierten Schaltstelle bildete ein Interface zwischen Mensch und Maschine aus. Nicht im Sinne mit dem „Human Interface“ verknüpfter, möglicher trivialer Horrorvisionen, sondern auf der Ebene der Parität von Intelligenzen und der Verlagerung von Erfahrungen. In den unterschiedlichen Räumen konnten einerseits die Steuerungssysteme beeinflußt, andererseits deren Ergebnisse beobachtet werden. Der Zugriff ist heute – wie auch an diesem Beispiel gezeigt wird – nur durch die Orientierung innerhalb der „Zentrale“ möglich. Die visuell und akustisch erfahrbaren Handlungen bedeuten trotz der sinnlichen Komponente vor Ort einen Wahrnehmungsverlust der eigentlichen Wirklichkeit, die sich in Form von Entscheidungen in den elektronischen und telematischen Raum verlagert hat.
Als sichtbares Zeichen globaler Informationsstrukturen entwickelte die holländische Architekten/Künstler-Gruppe ATTILA das Projekt paraSITE. Es handelt sich dabei um eine aufblasbare Skulptur mit einem ans Internet angeschlossenen Gehirn. In seiner Grundkonzeption verweist paraSITE auf den lokalen wie auf den globalen Raum. Auf dieser Seite Internet und World Wide Web, auf jener die Standorte seiner Präsenz (in unserem Fall Rotterdam, Helsinki, Dunajuvaros/Ungarn, Graz, Den Haag). Die Traglufthalle funktioniert als offenes Studio für Künstler, Komponisten und Net-Designer. Die handelnden Personen transformieren die von paraSITE über das Netz und seine „eigenen Sinnesorgane“ absorbierten Daten. Lokale Daten werden in das vorentwickelte Programm gespeichert und reichern dieses an. Damit wird paraSITE immer intelligenter und auch immer schöner (ATTILA). Diese Anreicherung kann als Metapher für die Lernfähigkeit der Datenmaschinen gelten. Man könnte fast davon sprechen, daß paraSITE eine objekthafte und räumliche Inkarnation des unendlichen, in seiner Form und Dimension nicht greifbaren weltweiten Datenraums ist: das Gestalt gewordene Interface, an dem die Daten- und Kommunikationsleitungen zusammenlaufen und einen neuen Netzwerkknoten sichtbar im urbanen Raum signalisieren. Das, was über Glasfaserkabel rund um die Welt läuft, wurde – bedingt – ortsfest gemacht, das transitorische Element der Nachrichtenübermittlung dingfest. Die Frage, die ein Beitrag wie paraSITE aufwirft, drängt sich rasch auf: Kann das „Globale Dorf“ lokalisiert werden?8Vgl.: Marshall McLuhan, Das resonierende Interwall. In: Marshall McLuhan-Reader, Mannheim: Bollmann 1997, S. 223f. Ist nicht gerade die Ortlosigkeit bzw. das Ersetzen des realen Ortes durch den überall gegenwärtigen virtuellen die Stadtstruktur des medialen Zeitalters?
In Graz wurde dieses Projekt, das sich für acht Tage an „2000 minus 3“ andockte, nicht zuletzt aus diesem Grund verändert und erweitert. Gemeinsam mit dem Institut für Städtebau an der TU und „Splitterwerk“ organisiert und betreut, sollte der vervielfachte Ortswechsel die entscheidende Signifikante bilden. Für jeweils 24 Stunden tauchte die „silberne Zigarre“ an einem anderen Ort auf: vom Hauptbahnhof über die Technische Universität, die Universität, den Industriepark Nord, das Künstlerhaus, den Augarten, den Volksgarten, zum Hauptbahnhof zurück. So wurde ein Netz über Graz gespannt. Ein Realzeit-Video begleitete die Bewegungen im Informationszentrum und an der Übergangszone vom Außen zum Innen. paraSITE wurde als materialisierte Schnittstelle und Präsentationsort interpretiert und diente in Absprache mit der Projektgruppe ATTILA entgegen der ursprünglichen Bestimmung nicht als reales Labor. Die Produktionsstätten waren ausgelagert: z.B. in das Institut für elektronische Musik der Musikhochschule, in das Computerzentrum der Technischen Universität, aber auch in die privaten Studios der TeilnehmerInnen. Mit dieser Entscheidung sollte die lokale Bedeutung und Struktur von – in diesem Fall künstlerischen – Datenressourcen in Referenz zum „Globalen Dorf“ evident werden.
paraSITE bot die Gelegenheit, zu demonstrieren, daß Informationsqualitäten zwar jederzeit verfügbar und unmittelbar nach ihrem Erscheinen kommunizierbar sind, daß sie aber gleichzeitig und diametral zu ihrer Übertragungsgeschwindigkeit zeitlich in einer verlangsamten Bewegung, strukturell geistig in einer ortsspezifischen Gestalt ausgebildet werden. Dafür eignete sich die Tragluftkonstruktion in kohärenter Weise als Symbol: inmitten der Öffentlichkeit den Denkraum markierend, vorübergehend ortsfest, aber nicht mit einbetonierten Fundamenten versehen, begehbar, aber auch von den immer gleich laufenden Strömen des alltäglichen Verkehrs abgegrenzt. Kein öffentlicher Raum, den man passieren muß, aber permanent im Blickfeld. Möglicherweise die Alternative zur Auflösung des White Cube im nächsten Jahrtausend.
Wie eines dieser Labors, in dem Datenprogramme vor der Silhouette des „Human Interface“ konfiguriert werden, funktionieren und in welcher Weise die Mensch-Maschine-Beziehung aufgenommen werden kann, führten Monica STUDER und Christoph v d BERG mit ihrem Projekt „Seele messen“ vor. Darin werden computergenerierte Datenmengen und subjektive Vorstellungsmengen auf einer Bildebene zusammengeführt. Nach In-Gang-Setzung des von den Künstlern zur Verfügung gestellten Angebots scheint es so, als ob die Maschine (mit ihrem Computerprogramm) in der Lage wäre, den subjektivsten Vorstellungen eines spirituellen Begriffs wie der Seele Gestalt zu verleihen. Ein Begriff zumal, der nicht nur durch persönliche Implikationen, sondern auch durch kulturelle und religiöse seit Jahrtausenden geprägt ist. Das Künstlerpaar arbeitet in langwieriger und seriöser Weise an der Herstellung eines Konstrukts, nämlich, daß sich Seele auch als nicht stoffliches Organ in seiner Ausformung numerisch berechnen und als Modell auf verschiedene Art abbilden lassen könnte.
Schon in der Anordnung des Versuchs – eine Testperson wird mit einem eigens für sie und das Ziel des Meßvorgangs entwickelten Programm verknüpft – werden Muster für den Erkenntnisprozeß durch wissenschaftliche Methodik weitgehend übernommen und in den Bereich künstlerischer Anschauung integriert. Das soll nicht heißen, daß das Bild des Künstlers als Forscher und Programmentwickler nicht längst, vor allem im Bereich der Neuen Technologien, reale Realität geworden ist. Der virtuelle Raum erfährt nicht nur Umfunktionierungen durch künstlerische Interventionen, er wird durch solche angereichert und ausgebaut. STUDER / v d BERG kreieren in ihrem Projekt aber nicht neue Dimensionen der virtual reality, sie konfrontieren die (Vorstellungs)Möglichkeiten des binären Codes mit den Vorstellungsmöglichkeiten eines „Organs“, das sich jeder Anschaulichkeit außer in der symbolischen Darstellung entzieht. Mit dem wahrnehmungspsychologischen Trick der Auswahl/Übereinstimmung von/mit verschiedenst strukturierten, in einer Kartei gesammelten elementaren Gebäudeformen und der durch die Eingabe des Namens erfolgenden Signatur durch den Betrachter bindet das Künstlerduo diesen in ein Experiment ein, bei dem die Verknüpfung der Koordinaten nur durch ein vorauszusetzendes hohes Maß an persönlicher Identifizierung erzielt werden kann. Die Anschaulichkeit des Ergebnisses steht sowohl für die Erwartungshaltung an die experimentelle Forschung als auch an die Gestaltungskraft des Künstlers. Durch sein Erzeugnis, das ihm über den Computer – so scheint es – nicht nur durch eine spezifische Programmsprache gelingt, sondern erst durch die Mitwirkung realer, individuell so verschiedener Testpersonen, bricht die Versöhnung der „seelenlosen“ Maschine mit dem Individuum als Konflikt eigentlich erst aus.
STUDER / v d BERG stellen weder die maschinellen noch die individuellen Kapazitäten in Frage, sie regen aber einen Diskurs zwischen der konzeptionellen Exaktheit wissenschaftlicher Arbeitsweise und dem Bild des Künstlers als individuell Schöpfendem an. Hier steht die reale Realität der imaginären Realität, könnte man meinen, im Wege. Das heißt, ein Instrumentarium der Raumerweiterung und der tatsächlichen Erfahrungsveränderung wird an jenem Punkt zur Anwendung gebracht, an dem es vorgibt, ein reines Vorstellungsmodell zu vermessen und – was einen entscheidenden Faktor bildet – in eine Form zu bringen, die zerklüftet oder geschlossen sein kann, die aber letztlich nirgends Platz findet, weder im realen Körper noch in der Imagination. Daher kann der Betrachter trotz der scheinbaren Schlüssigkeit keinen rationalen Zusammenhang mit dem Resultat des Vorganges herstellen. Zwei unterschiedliche Raumsegmente können trotz eines für beide Seiten befriedigenden und mit Spannung erwarteten sichtbaren Ergebnisses nur auf der ästhetischen Ebene zur Deckung gebracht werden. So wird eine System-zu-System-Beziehung paradigmatisch als Placebo entlarvt.
Mit dem Vorhaben, nicht in erster Linie ein vom Künstler neu geschaffenes „Bild“ zu präsentieren, sondern das (einzig mögliche) Bild des Künstlers unter den durch neue Wahrnehmungsräume veränderten Bedingungen und den vom digitalen Zeitalter generell veränderten Strukturen exemplarisch zur Diskussion zu stellen, kann einer der Schwerpunkte von Thomas FEUERSTEINs Projekt beschrieben werden. Eine ausführliche Begegnung mit der indischen Kultur versucht er neben anderen immer wieder reflektierten Erfahrungen als Theorie auf die Künstlerrolle umzumünzen: der Künstler als Avatar. FEUERSTEIN repräsentiert in verschiedenen Werkgruppen exemplarisch jene Bruchlinie, die für essentielle Kunstbeiträge der 90er Jahre (in Fortführung und Erweiterung von Ansätzen der 70er Jahre) von Bedeutung sind: Nicht die Welten des Künstlers werden auf die Leinwand übertragen, sondern bestehende Weltbilder werden in den Künstler projiziert. Die Welt wird dabei nicht als Anschauungsobjekt vom Künstler in seiner Kunst repräsentiert, sondern der Künstler selbst wird zum Objekt seiner Kunst. Der Künstler schafft sich dadurch ein Double, einen künstlichen Künstler, der ihm die Bearbeitung ambivalenter Phänomene unserer Zeit erlaubt.9Thomas Feuerstein, der Künstler als Ataver, http://www.myzel.net/biophily/dka/text_de.html veröffentlicht 1996, gesehen: 10.10.2017 Unter diesen Voraussetzungen untersucht FEUERSTEIN vor allem die traditionellen Informationsräume – die medialen und digitalen Datenbanken ebenso wie die analogen: Text, Bibliothek, Museum – und deutet darin sowohl die Selbst- als auch die Fremdbestimmung des „Schöpfers“. Sein Beitrag setzt sich aus einzelnen Modulen zu einer systemischen Raumverschränkung zusammen.
Die „Bibliothek zur Ausstellung“ ist ein Text-Archiv, zweifach komprimiert – auf die Oberfläche der Buchrücken und auf die eines glänzenden Schwarz-Weiß-Fotos. Inhalt des Archivs in Form von Buchtiteln sind Schlüsselbegriffe aus dem Ausstellungskonzept „2000 minus 3“. Das heißt, die künstlerische Arbeit, die insgesamt als Text zu lesen ist, wird – in diesem ersten Modul – durch den Text des Ausstellungsmachers fremdbestimmt. Er gibt gewisse Parameter vor, die als Projektionen einer Entwicklung auf die teilnehmenden Künstler rück- oder vorausprojiziert werden. Ohne im einzelnen auf das Ausmaß solcher Projektionen im Kunstbetrieb generell einzugehen, werden auch hier Weltbilder auf den Künstler übertragen – Weltbilder, die als Reflexion auf reale oder imaginäre Weltbilder zustande kommen. Auf der einen Seite macht FEUERSTEIN den Raster, unter dem sich Kunst heute ereignet (oder sinnvoller Weise nur ereignen kann) mit dem Bild der Bibliothek sichtbar. Auf der anderen Seite – in der „Welt als Tastatur“ – verbildlicht er generell die heute funktionierenden Wahrnehmungsmuster. Eine gängige Landschaftstapete wird vom Scan einer Computertastatur überlagert.10Diese Arbeitsmethodik verweist auf eine Technisierung von Welt, die am Ende des 20. Jhdts. uns diese zu einer Oberfläche transformiert darstellt, auf der alle Objekte, egal ob es sich um Tische, Autos, ganze Städte oder Lebewesen handelt, als Texturen lesbar und entcodierbar erscheinen. Wissenschaft, Technik und Industrie programmieren unsere alltäglichen Lebenszusammenhänge, dechiffrieren Natur und erstellen neue Schriften in Form neuer Produkte, womit nach Feuerstein die gesamte Welt zur Weltliteratur geworden ist. Werner Fenz, Thomas Feuerstein. In: 2000 minus 3, ArtSpace plus Interface, Ausstellungskatalog, op. cit., S. 39. Dieser Begriff der Weltliteratur, der einen immer weiter sich fortschreibenden Bericht über die Welt ausformuliert, ließe sich ohne Schwierigkeiten mit der „Beobachtung zweiter Ordnung“ verknüpfen, würde in dieser Lesart aber bedeuten, daß sich „reale Realität und imaginäre Realität“11Niklas Luhmann, Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung. In: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, T5. 1997, S. 93 – 95. auf der Seite der imaginären Realität einander annähern. Das heißt, daß letztlich auch unsere Welterfahrung nicht mehr die einer realen Realität ist, sondern eine in der Beobachtung lesbare. Eine solche Haltung zielt auf den elementaren Erfahrungsbereich des Menschen. Sie zielt auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Raumdifferenzierungen und betrifft also den Lebensraum des Menschen in eklatanter Weise.
Es sind nicht mehr die aus dem Körperraum des Künstlers evozierten Bilder, es sind auch nicht mehr die auf den Denk- und Erfahrungsraum des Künstlers projizierten Weltbilder – es ist die grundsätzlich verschobene und veränderte Struktur des Bildaufbaus in der realen Realität. Das Weltbild ist in einer derartigen Auffassung zur Weltliteratur geworden, zum Bericht über das Beobachtete. Diese Situation des Beobachtens und des Beobachters kommt in der klein dimensionierten Video-Installation noch einmal deutlich zur Sprache. Inmitten der Requisiten eines vom traditionellen Bild bestimmten Künstlers, beobachtet von der Überwachungskamera und von ihr in den Bildmixer gespielt, geht der Künstler ruhelos auf und ab. Im Verhältnis zu ihm überdimensional wird er von uns, den Betrachtern, die ihr Betrachten auf dem Bildschirm live eingespielt bekommen, beobachtet; von jenem Standort aus, an dem wir das Modell des Künstlerateliers beobachten.
Im ebenfalls in Graz ausschnitthaft gezeigten Projekt „Biophilie“ – nach Fotovorlagen handgemalte Bilder aus indischen Malerwerkstätten, denen auch die Herstellung von riesigen Filmplakaten anvertraut wird – steht das Thema der Hybridisierung am Schnittpunkt imaginärer Entwürfe, symbolischen Denkens und realer Gegebenheiten als Metapher für den Raster, in dem sich der Künstler bewegt, im Mittelpunkt der Überlegungen. Dieser Ansatzpunkt verweist auf ein weiteres – in Graz nicht gezeigtes – Modul in FEUERSTEINs künstlerischem Denken, nämlich auf die Arbeit „EUGEN – Hire all my Information“. Hier wird der genetische Informationswert des Künstlers selbst Gegenstand der künstlerischen Arbeit. Anstatt traditionelle Informationen in Form von Bildern oder sonstigen Artefakten im KunstRaum auszustellen und damit in spezifische Datenbanken einzuspeisen, schreibt der Künstler seine ureigenste Information, seinen genetischen Text bzw. seine DNS, in eine Gen- und Samenbank (California Cryobank) ein. FEUERSTEIN belegt die für das Ausstellungskonzept als wesentlich aufgestellte These, daß mediale künstlerische Arbeit nicht nur in der Verwendung der sogenannten neuen Technologien ihren Ausdruck finden kann, in klar nachvollziehbarer Weise.12Die objektiv ablesbare intensivierte Arbeit an den Schnittstellen macht einerseits die Welt als Anhäufung systemischer Räume sichtbar und differenziert andererseits eine neue mediale Begrifflichkeit aus. Sie steht als konkrete Versuchsanordnung im Mittelpunkt des Projekts. Über Internet abrufbare Projekte, mit dem weltweiten Netz direkt verknüpfte Arbeiten stehen neben anderen Bildpotentialen und Handlungsformen, die ebenso das kommunikative Moment im Raum der Mediengesellschaft künstlerisch instrumentalisieren. Vgl. Werner Fenz, Mediale Schritte im Raum – Bewegungen und ihre neuen Dimensionen. In: 2000 minus 3, op. cit., S. 8. Sogar die Malerei – traditioneller Weise in Opposition zur hermetisch definierten Medienkunst stehend – wird in dieses Spektrum mit einbezogen. Dies ist dadurch möglich, daß sie auf die heute bestimmende mediale Konstitution des Welt-Erlebnisses rekurriert und dadurch ebenfalls in der Lage ist, als Schnittstellenmultiplikator13Thomas Feuerstein, Diskurs der Systeme. Kunst als Schnittstellenmultiplikator. Wien: Triton, 1997 S. 8 f.zu fungieren.
Einen extremen Gegensatz zu dieser Methode stellt der Arbeits- und Handlungsansatz von Eric HATTAN dar. Er führt den privaten Raum in die künstlerische Auseinandersetzung ein und bedient sich in Verbindung damit der geläufigen Informationsstrategien. HATTAN hat für den Beitrag „So eine Umordnung“ schon von Basel aus seine Anwesenheit in Graz signalisiert: unprätentiös über das geläufige, von jedermann benutzbare Kleininserat. Unter den verschiedensten Rubriken – von „Haus und Garten“ bis „Zu kaufen gesucht“ – stand zum Beispiel zu lesen: „Ich bin in Graz, um mir Ihr Geschirrbuffet mal genauer anzusehen. So eine Umordnung“. Eine private Telefonnummer, nicht die einer Kunstinstitution, war als Kontaktstelle angegeben. Diese Kontakte, die in fünf Fällen konstruktiv funktionierten, dienten zunächst dazu, die jeweils eigenen Positionen auszuformulieren. Das heißt, der Künstler erzählte einer Person, nicht der Öffentlichkeit, wie bei Ausstellungen üblich, von seinem Tun und Handeln.
Erst später konfrontierte er den Gesprächspartner mit seinem eigentlichen Anliegen, nämlich in den Privaträumen des Gegenübers, in dessen Wohnung also, Veränderungen, Umordnungen, vornehmen zu wollen. Die dabei zum Tragen kommende Strategie des Vorgehens wurde auf die Vorstellungen der in das Kunstwerk nun involvierten Person abgestimmt: Entweder vor deren Augen seine Tätigkeit auszuüben oder für Stunden, für einen Tag, für Tage alleingelassen, die Umordnung vorzunehmen. HATTAN hat mit diesem Ansatz den Kunstbegriff umgewertet und „ausufern“ lassen. Die generell gesellschaftliche Komponente künstlerischen Handelns wurde in eine privat bezügliche transformiert und die Methode daraufhin abgestimmt; der Skulpturbegriff auf bestehende Objektensembles und deren neue räumliche Anordnung angewendet. Entscheidend ist dabei, daß das Arbeiten mit vorhandenem, alltäglichem, nicht-künstlerischem Material nicht im Sinne der „Arte Povera“ im Kunstraum, nicht im Sinne von Raimund Kummers „Bezeichnungen“ auf Lagerplätzen im öffentlichen Raum demonstriert wurde. Von zentraler Bedeutung ist das Überschreiten der Schwelle in die Intimsphäre eines interessierten und im Gespräch überzeugten Partners, dessen Ambiente die Aufmerksamkeit der künstlerischen Intervention gilt. Auf der mentalen Ebene ist der Eingriff in Vertrautheiten von Bedeutung. Und außerdem, daß weder etwas Neues hinzugefügt, noch etwas – außer von seinem ursprünglichen Platz – weggenommen oder an der Form der Objekte verändert wird, sondern daß eine neue Raumkonstellation die bestehende und für – zumindest temporär – gültig erklärte ersetzt.
Nicht zu verwechseln ist die Rolle HATTANs dabei mit der eines Innenarchitekten, der dem privaten Lebensraum ein neues Styling verpaßt. Die traditionell bestimmte und aus der Persönlichkeitsstruktur bzw. aus der sozialen Stellung erwachsene Ordnung bildet das Ausgangsmaterial. Durch die „Umordnung“ kann dieses Material, das immerhin das persönlichste Umfeld ist, in den systemisch segmentierten Umfeldern unserer räumlich stetig expandierenden Gesellschaft neu gesehen und mit möglicherweise verloren gegangenen Bedeutungen wieder aufgeladen, oder im Moment bestehende Bedeutungen können in der neuen Ordnung temporär abgebaut werden. Erst durch den Abbau, der sofort wieder revidiert werden kann, wird die Bedeutung, die sich zufälligerweise oder bewußt im Lauf der Zeit ergeben oder eingestellt hat, wieder wahrgenommen und als ein Stück des persönlichen Zeit-, Erfahrungs- oder Sozialhorizonts markiert.
Die Arbeitsmethode, nicht die konkreten skulpturalen Handlungen in Graz, wurde konsequenterweise anonym und modellhaft mittels Video im Foyer des Künstlerhauses dokumentiert. Vor dem Hintergrund der den White Cube zitierenden Ausstellungskojen hat HATTAN in einem zweiten Beitrag die Wahrnehmungsparameter für Raum als formales Element wie als Erfahrungshorizont anschaulich skizziert. Ein kleines, mit einfachem Bastlergeschick hergestelltes Raummodell täuschte in den engen Raumeinheiten im Obergeschoss des Künstlerhauses den Besucher. Was er durch einen Spion als Dimension und Gestalt des Nachbarraumes wahrzunehmen schien, entpuppte sich als Blick in das genannte Kartonmodell und setzte die zunächst für möglich gehaltene visuelle Kommunikation mit einem Gegenüber außer Kraft.
Die deutsche Künstlerin Nana PETZET arbeitet im sensiblen Raum der Ökologie. In diesem Bereich haben sich Künstlerinnen und Künstler in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrfach positioniert. Es tauchten dabei, wenngleich unter anderen Vorzeichen, verwandte Probleme auf wie in den frühen Jahren feministischer Kunst. Sie waren in erster Linie charakterisiert durch eine erhebliche Differenz zwischen seriösem inhaltlichem Engagement und dessen formaler Umsetzung. Auf den ökologischen Raum bezogen bedeutete die Methode der unumgänglichen Ausdifferenzierung, des Überführens in ein künstlerisches Vokabular, eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der „Realität erster Ordnung“ und den möglichen Zugängen zu einer „Realität zweiter Ordnung“. An einem simplen Beispiel veranschaulicht – die Bedingungen führen auch hier vom Besonderen ins Allgemeine künstlerischer Praxis – stellte sich die Frage nach kongruenten Mitteln, die weder Illusion einer heilen Welt noch Apotheose der Natur heißen konnten. Also: Das Ölbild oder Aquarell der unversehrten „Langen Lacke“ (Naturschutzgebiet im österreichischen Burgenland), auf dem im Stil des „Großen Realen“ (Kandinsky) das Gezwitscher sämtlicher dort lebender und schützenswerter Vogelarten imaginiert werden sollte, war nicht die Lösung des Problems auf der künstlerischen Ebene. Auch die dramatische Variante mit dem entlaubten und kranken „Bruder Baum“ als in Öl gesetztes oder in Eisen gegossenes Mahnmal einer über die erträglichen Maßen hinaus zerstörten Umwelt, plaziert im Kunstraum, im Wohnzimmer oder in den Büroräumen der Umweltorganisation, stellte sich ohne große Überraschung als künstlerische Sackgasse heraus.
Nana PETZET verzichtet auf die, wenn auch noch so naturalistisch vorgenommene, symbolische Darstellung von ökologischen Problemen, sie klinkte sich mit ihrem Beitrag „DSD oder SBF-System?“ in ein bestehendes – in Deutschland und Österreich ähnliches – Abfallverwertungskonzept ein und stellt dabei das offizielle System ihrem eigenen gegenüber. Ort der konkreten Handlung: das Warenhaus, in dem der Besucher/Konsument auf dem Weg zur künstlerischen Arbeit bereits hunderte, besser tausende, Verpackungen der komplexesten Art passiert hat. Das „Duale System Deutschland (DSD)“, gegründet 1990 von Unternehmen aus Handel-, Konsumgüter- und Verpackungsindustrie, ist die Antwort der Privatwirtschaft auf die drängenden „Entsorgungsprobleme“, die nicht mehr allein von Staat und Kommunen bewältigt werden können. Das dafür verwendete Symbol „Grüner Punkt“ mit seinen an Ying Yang erinnernden verschlungenen Pfeilen soll den Kreislaufgedanken herausstellen und ein scheinbar gefundenes Gleichgewicht veranschaulichen. Symbole dieser Art werden in unglaublicher Naivität sogar in die Richtung des Häßlichen und Schönen, des Bösen und Guten getrieben.
Das Münchner Amt für Abfallwirtschaft wirbt auf einem Umwelttag mit dem Müllmonster „Mülli Pülli“ für Mülltrennung im Sinne des DSD. Nachdem der Müll in die fünf verschiedenen Fraktionen getrennt ist, verwandelt sich „Mülli Pülli“ vor den Augen des Publikums in eine schöne Prinzessin. Dem gegenüber steht immerhin die Menge der von den deutschen Haushalten gesammelten und dem Dualen System zur Weiterverarbeitung übergebenen Wertstoffe: 1994 pro Einwohner und Jahr 30,4 kg Glas, 14,5 kg Papier, Pappe, Karton, 15,8 kg Leichtverpackungen.PETZET resümiert, daß das, was im DSD „Recycling“ genannt und der Bevölkerung als Verwandlung in die strahlende Prinzessin serviert wird, nichts anderes sei als die technisch und energetisch ungeheuer aufwendige Verwandlung eines hochwertigen Produkts in ein Produkt mit wesentlich schlechteren Eigenschaften (werkstoffliches Recycling) oder die Rückführung eines Materials mit Hilfe von umweltschädlichen chemischen Verfahren in einen seiner Ausgangsstoffe (rohstoffliches Recycling). Selbst wenn die Schwachstellen von DSD durch technologische Innovationen verringert werden können, bleibe das grundsätzliche Problem, nämlich das der Haltung des Verbrauchers. Nachdem sich das Entsorgungsproblem dem direkten Umfeld des Verursachers entzieht, könne die Folgerung daraus nur heißen: „So weiter wie bisher“ – schließlich haben wir die Abfallverwertung im Griff. Mit dem SBF(Sammeln, Bewahren, Forschen)-System kann die Eigenverantwortung von VerbraucherInnen aktiviert werden, da bereits eine Reihe von Patenten erfunden worden ist, die die werkstoffbewahrende Verwertung garantieren können. Vor allem die Reduzierung des Energieverlustes auf Null stellt sich beim SBF-System als der größte Vorteil heraus.
Das Abfallmaterial wird ohne Einsatz von Technologie durch Menschenhand zu Papierkörben, Fußabstreifern oder Hüten usw. weiterverarbeitet. Besonders interessant an dieser Methode scheint, paradigmatisch für die Raumsegmente des Alltags, die unmittelbare Gegenüberstellung tatsächlich praktizierter Systeme zu sein. Wir sind in unserer Betrachtung des Raumes und der künstlerischen Positionen im Raum schon mehrmals auf die Realität zweiter Ordnung gestoßen, die ein Beobachten des Raumes heute nicht mehr allgemein, sondern segmentiert und von verschiedenen Systemen bestimmt, zuläßt. PETZET spricht nun konsequent sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite diese Systematisierung an. Sie scheut sich nicht, dem einen der Systeme den Vorzug zu geben und auf einer visuell standardisierten Ebene dafür Werbung zu machen. Neben einer wahren Flut von Gegenständen, die sie auf und mit den Einrichtungen des Kaufhauses präsentierte, wohl auch, um sie konkret in den Konsumkreislauf zu integrieren – es sei hier unter anderen Vorzeichen auch wieder an die Bewerbung eines Produkts durch PROTOPLAST und an den Vertrieb von „Inhalten“ durch b_books/p=press erinnert – zeigte PETZET in einem klassischen Demonstrationsvideo, in seiner Ästhetik bewußt angelehnt an die Heimwerker-Videos der Baumärkte, den Werdegang gebrauchter Milchpackungen – um ein Beispiel herauszugreifen – von der Dekonstruktion in Streifen bis zur funktionstüchtigen Konstruktion eines Fußabstreifers. Mit „Sammeln, Bewahren, Forschen“ spielt das von ihr unterstützte System der Abfallverwertung auch auf die drei traditionellen Grundpfeiler des Museums, also des Raumes, in dem unter anderem auch Kunst in ihrer höchsten Qualität präsentiert und wissenschaftlich bearbeitet wird, an. So erweitert sie den Kreislaufgedanken um die Definition eines der wichtigsten Kunsträume, sodaß sich hier Kunst wie von selbst im Zusammenhang mit der geistigen Weiterverarbeitung vorhandener Realitätselemente wiederfindet.
Mit dem Bildraum-Transfer, den Martin OSTERIDER im öffentlichen Raum vorgenommen hat, lotete er neben der Struktur das visuelle Erscheinungsbild unterschiedlicher Urbanitäten, die jederzeit durch die ständig weiter zunehmende Mobilität physisch erlebbar sind, aus. Reisefotos, vorwiegend aus Mexiko, wurden in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt Graz jeweils in Augenhöhe der Fahrgäste präsentiert: entweder – für die Stehenden – auf den Stangen, an denen die Haltegriffe montiert sind oder – für die Sitzenden – auf den Abschlußleisten der Sitzlehnen. An die Stelle von den in Autobussen und Straßenbahnen üblichen Werbebotschaften traten Stadtansichten, vom Auto oder Bus aus aufgenommen. Durch die Konzentration auf Motive, durch die Windschutz- oder Seitenscheibe fotografiert, näherten sich die Aufnahmen dem ausschnitthaften Sehen der Fahrgäste an. Diese räumliche Positionierung spiegelte ein grundsätzlich zwar fremdes, von der Erlebnisweise aber auch wieder vertrautes Bild der Welt ein.
Die eingesetzte Methode aktiviert das gewohnte Umfeld der Bildbotschaften im Transportmittel und stellt den Fokus auf eine Ambivalenz der Wahrnehmung von Raum und Zeit scharf. In der realen Fortbewegung konnte der Betrachter statische Bilder, die durch eine Reisebewegung zustande gekommen waren, erleben. Aus einer anderen geografischen und kulturellen Situation stammend waren diese zeitlich „eingefrorenen“ Bilder mit den bewegten Ausschnitten aus dem hier und jetzt tatsächlich vorüberziehenden, vertrauten Umraum vergleichbar. Da OSTERIDER nicht die beliebten und durch persönliches, vor allem aber mediales Erleben bekannten View Points als Abbildung in den Mittelpunkt rückt, sondern sich bei der Herstellung seiner Bilder ebenfalls auf den alltäglich genutzten Hauptverkehrsstraßen bewegt hatte, wurde das Dispositiv einer ästhetisch ausgerichteten „Vergleichsmenge“ ins Zentrum gerückt. Von dieser so konstituierten gemeinsamen Basis zwischen eingeschweißten, den praktikablen Anforderungen in diesem Segment des öffentlichen Gebrauchs angepaßten Foto-Bildern, und den durch die Seiten- oder Windschutzscheibe gerahmten laufenden Bildern des eben befahrenen Raumes aus, stellten sich die Fragen nach der Nivellierung bzw. der Differenz von bildlich erfahrbaren urbanen Oberflächen.
Welche kulturellen Merkmale, welche farbigen Dominanzen, welche Gestalt der städtischen Möblierung etc. sind in diese weit auseinanderliegenden Oberflächen signifikant eingeschrieben? Mit einer unprätentiösen Anordnung, die aber unmittelbar auf den Rezipienten zugeschnitten war, konnte ein Bilddialog in Gang gesetzt werden, der das „Nomadentum der neunziger Jahre“14vgl. z.B. Horst Gerhard Haberl: „Der steirische herbst verfolgt mit seinem programmatischen Leitmotiv einer ‚Nomadologie der Neunziger‘ die Entwicklung einer Kultur der Mobilität“. In: Programmheft steirischer herbst 92, S. 5. und die Rückkoppelung auf die tägliche Mobilität und deren meist verwischten Erlebnisstrukturen zum Inhalt hatte. Entscheidend bei diesem Ansatz ist, daß die „erste Realität“ nicht über einen referentiellen, selbständig oder durch eingebaute Verweise hergestellten, Kommentar als Projektionsfläche eingezogen wurde, sondern live durch die Bewegung in dieser Realität. Die „zweite Realität“,15Vgl. Niklas Luhmann, op. cit., S. 93 – 95. in diesem Fall die des Fotos, bildete die Schnittstelle zur ersten und war auch für den Aktivierungsprozeß der unterschiedlichen Realitätsebenen verantwortlich. Die Umkehrung der Verhältnisse kann folgerichtig nur im anderen Realitätsbereich erfolgen. In dieser scheinbar banalen, auf jeden Fall jedoch logischen Struktur deutet sich die Austauschbarkeit von Raumzonen einerseits, die Determination, was jeweils als bewegtes Bild bzw. als statisches wahrgenommen werden kann, andererseits an.
Auf der Oberfläche von sechs leicht aus der Horizontalen gekippten Tischen erzeugt STUDIO AZZURRO in „Tavoli“ unterschiedliche monumentale Raumsegmente. Mittels Bild-CD-Projektionen auf dieses als Bildschirme funktionierende Mobiliar, auf dem in der Regel reale Gegenstände angeordnet sind, simuliert das Künstlerteam Bewegungsvorgänge von Objekten. Der Besucher schaltete durch einfaches Klopfen auf die Tische vom Standbild auf das Laufbild um. Neben dieser Interaktion – ausgelöst durch einen haptischen Zugriff auf das Bild und nicht durch einen auf die Start- oder Stoptaste von Apparaturen – stellt sich die Überführung des flachen Bildschirm-Bildes, in dem Raumkoordinaten vorgetäuscht sind, in die Sphäre, in der sich der physische Körper des Besuchers bewegt, als entscheidende Komponente heraus. Die Wahrnehmungsqualität der Bewegung führt in eine weitere Raumdimensionierung über und verändert dort die Rezeption. Über den Kopf des Betrachters hinweg weitet sich der Raum aus. Immer wieder stürzen Gegenstände, von Geräuschsequenzen realistisch, besser theatralisch, untermalt, von „oben“ am Besucher vorbei auf die Tischflächen hinab, um auf diesem Schirm, auf dem die Lichtstrahlen auftreffen, zu zerbrechen, unter Wasser oder in Brand gesetzt zu werden.
Der Körper einer Frau windet sich am Tisch und rollt schließlich in zunehmender Bewegung von diesem hinunter, um in der Black Box zu verschwinden. Das, was eben noch als dreidimensional projiziertes Element lebendig und beweglich war, ist plötzlich, an der Schnittstelle zum realen Raum – also an der Kante zwischen Bildschirm-Fläche und Umraum – nicht mehr vorhanden: ausgeblendet, auch der Immaterialität verlustig geworden. Das scheinbare Auftreffen im materiellen Raum, im selben, in dem sich der Betrachter befindet, läßt das illusionistische Bild verschwinden. „Tavoli“ arbeitet auf der Basis einer opulenten und beeindruckenden Inszenierung am Interface zwischen Maschinenbildern und deren Eintritt in den traditionell konfigurierten Wahrnehmungsraum. Die verblüffenden Handlungsweisen auf den Tischen in Form klassischer Erzählstrukturen sind im Zusammenhang mit „2000 minus 3 / ArtSpace plus Interface“ dort von besonderer Bedeutung, wo sie die Raumgrenzen durchbrechen und aus ihrem scheinbar geschlossenen medialen Regelkreis heraustreten: In dem Moment, in dem sie aus der Unendlichkeit des schwarzen Dunkels auf dem realen Mobiliar auftreffen, sichtbar werden und eine Raum-Zeit-Spur markieren oder dann, wenn sie am Rand des zum Bildschirm erklärten Tisches die Raumgrenzen überschreiten, also lautlos unsichtbar werden und dabei auch das eine oder anderemal das durch den Illusionsmechanismus zu erwartende Geräusch aussetzt.
Das erwartete, nicht erfolgende Aufschlagen auf dem Boden der Realität zeigt an, daß auf die Projektion nun den Realraum konstituierende Merkmale übertragen werden. Dieses in der Installation angelegte Wechselspiel zwischen dem einen und dem anderen Habitus erklärt die Bedeutung dieser Arbeit für ein Raumthema, das sich die Aufgabe gestellt hat, nicht nur das Erlebnis-, sondern das Bedeutungspotential von Räumen zu vermessen und dabei aufzuzeigen, in welcher Weise wir heute nicht nur durch Bildoberflächen zippen, sondern die Möglichkeit besitzen (müssen), die dahinter liegenden systemischen Raumqualitäten erfahren zu können. Der Orientierungsfaktor, der mit einer reflexiven Rezeption verbunden ist, kann, wie in diesem Fall, aus einem engeren Regelkreis ebenso ausgefiltert werden wie aus einem weiteren der gesellschaftspolitischen oder sozialen Raumdimension.
Die Stadt „Glooscap“ von Alain BUBLEX ist in einem Territorium angesiedelt, das zwischen Fiktion und Realität liegt, zwischen geschichtlichem und zukünftigem Mythos. 1604 gegründet, 1783 zur Stadt erhoben, 1885 per Eisenbahn mit Vancouver verbunden, 1973 zur Städtegemeinschaft Glooscap-Koluskap vereinigt, existiert die Stadt auf dem (Zeichen)Papier, in Fotos ihrer herrlichen Umgebung am Passamaquoddy Bay im Süden von New Brunswick (Canada), über die Fahrplantafel mit den Abfahrtszeiten der Züge nach Montreal, Vancouver und Toronto und in der Repräsentation des Bürgermeisters, aufgenommen vor dem kanadischen Staatssymbol, dem Ahornblatt. Glooscap entstand als Grafik, BUBLEX war vor Ort, um „seiner“ Stadt einen realen geografischen Platz zuzuweisen. Die Stadt existiert durch die Dokumente über sie. So gibt es sogar ein Foto von drei amerikanischen Künstlern nach ihrer (gestellten) Ankunft in Glooscap.
Im Anschluß an fiktionalistische Richtungen in der Kunst der achtziger Jahre beschäftigt sich BUBLEX seit rund einem Jahrzehnt mit der Geschichte eines Ortes, die er in die Gegenwart einspiegelt. In der Zwischenzeit wurde ein Bild-Archiv aufgebaut, das mehrere hundert Dokumente enthält, die Zeugnis von der frühen Vergangenheit (Darstellung der Bastionen) ebenso ablegen wie von der Stadterweiterung oder der Industrialisierung. In diesem Archiv wird Geschichte und werden Geschichten erzählt. Architekturvisionen der siebziger Jahre, z.B. Hans Holleins „Architektur-Pille“, die virtuelle Stadt (The Legible City) von Jeffrey Shaw sind vergleichsweise geschichtslos, sie tragen lediglich den Zeit-Stempel der Idee und den simulierten Durchdringungs- und Bewegungsmodus in einem Raum in sich. BUBLEX stellt sich nicht den Fragen architektonischer Realität, er untersucht das Zeichen- und Bildvokabular, das nötig ist, um die Fiktion einer Stadt in die Realität überführen zu können. Es handelt sich also in erster Linie um ein semantisches Problem, das jenseits realer oder utopischer Bauformen angesiedelt ist. Besonders bemerkenswert ist dabei auch die Tatsache, – vor allem deshalb, weil sie in einem engen Kontext zum Ausstellungsthema steht – daß die sogenannten Realitätsgrade der Bildmedien gewechselt werden, um eine historische oder gegenwärtige Raumkonstellation zu erzeugen. Konkret geht es dabei um die Zeichnung / die Skizze / den Entwurf / die Fotografie / den Text. Der Bildstatus gibt somit Auskunft über die Zeitdimension und belegt gleichzeitig, daß er in seiner Konfiguration einmal für die retrospektive, ein andermal für die gegenwärtige Fiktion einsetzbar ist.
Diese Behauptung soll an einigen Beispielen dargestellt werden: Das Aquarell (der Bastion in Grund- und Aufriß) kann von BUBLEX nicht nur deshalb mit Fug und Recht – und ohne uns wirklich zu täuschen (Gibt es etwas, das nicht trügt?)16Vgl. Vilém Flusser, op. cit., S. 202 – 203 – in das Jahr 1727 datiert werden, weil es an den Rändern eingerissen wurde und Spuren der Vergilbung trägt, sondern vor allem dadurch, weil der Darstellungsmodus mit den Zeichensystemen am Beginn des 18. Jahrhunderts korreliert; die Ansicht des Atlantikhafens von 1930 entspricht einerseits dem durchschnittlichen Standard der Fotografie dieser Zeit, ist daher – scherenschnittartige Umrisse der Objekte in der romantischen Lichtstimmung – aber auch für jede an einem Wasser gelegene Ortsangabe einsetzbar; das vor einer Glaskabine geparkte Auto mit den Peitschenlampen, dem Truck und dem Wald im Hintergrund verkörpert das Areal einer Tankstelle, ohne dabei in irgendeiner Weise ortsspezifisch zu sein. Aufgrund bestimmten Räumen zugeschriebener, weil in dieser Form standardisierter, Raum- und Darstellungstypologien ist die Austauschbarkeit des Wahrnehmungsmodus gegeben und damit die Orientierung so gut wie aufgehoben. Unter Ausnützung dieser Erfahrungswerte, die die Bedeutung der semantischen Bildebenen für das ästhetische Erleben in den einzelnen Raumsegmenten unterstreichen, gelingt es Alain BUBLEX, am Beispiel von Glooscap, die Fiktion eines sozialen Gebildes, seiner historischen und politischen Strukturen zu schaffen: als Geschichtenerzähler, der sich den Einsatz der Bildsprache für die Darstellung von Geschichte zunutze macht.
Vadim ZAKHAROV verläßt diese Form der fiktionalen Ebene, nicht ohne veränderte Konstellationen des Nebeneinander von Imagination und Realität aufzubauen. Der Angelpunkt der Schnittstelle ist die momenthafte Überlagerung zweier Zeiträume – wie bei Bublex Vergangenheit und Gegenwart – die aber durch einen, in Sekundenbruchteilen erfolgenden Erkenntnisprozeß, in der Folge in einen längeren Wahrnehmungsprozeß übergeführt, ausgelöst wird. ZAKHAROV geht bezeichnenderweise von Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ aus und konzentriert sich dabei auf jenen Moment, in dem Swann, der Romanheld, durch den Biß in das Sandtörtchen Madeleine, den er bisher konstant und obsessiv verweigert hatte, die Schnittstelle zur Vergangenheit erlebt. Swann erinnert sich im Moment des Verzehrens des ersten Kuchenstückes plötzlich an Räume der Kindheit, deren Imagination ihm bis dahin unmöglich war. In Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften und im Internet,17z.B. http://www.dissense.de/kv/zakharov.html in dem auch ein ausführlicher Text – eine interpretierende Collage aus Proust und Kafka („Der Prozeß“) – publiziert wurde, stellt der Künstler die Frage „Macht es Sinn, das Sandtörtchen Madeleine zum Tode zu verurteilen und das Urteil zu vollstrecken?“ und gibt, ohne auf Antworten einzugehen, im Rahmen der Ausstellungsinstallation seine entschiedene Antwort darauf:
Das Gebäck Madeleine, das in einiger Entfernung von einem „Richtertisch“ am Boden drapiert ist, wird von einem Scharfschützen der Polizei – im Beisein des Künstlers, der Organisatoren des Projektes und Kritikern – hingerichtet. Das Fragment des Kuchens und die in alle Windrichtungen geschleuderten Brösel bilden vom dritten Tag der Ausstellung an in dieser zerstörten Form, in Verbindung mit dem Mobiliar und auf dem Tisch ausgelegten Mappen mit Texten und Farbkopien, die Elemente der installativen Anordnung. Unterdessen läuft die Kommunikation über das Netz weiter, lediglich der Ausstellungsbesucher erfährt am Eingang der weißen Koje, daß die Hinrichtung erfolgte. Mit diesem Verhalten verweist ZAKHAROV, von einer scheinbar ausschließlich subjektiv geprägten Entscheidung ausgehend, paradigmatisch auf gesellschaftliche Mechanismen, bei denen Entscheidungsprozesse vorkonditioniert sind, die Frage nach dem Sinn und der Rechtfertigung einer Handlung parallel zum vorweggenommenen Ergebnis wie die Persiflage auf ein demokratisches Verfahren in einem nur vorgetäuscht offenen Spielraum steht. ZAKHAROV geht es dabei wohl weniger um die Kritik am demokratiepolitischen System als um die Unausweichlichkeit bestimmter Handlungen, die heute, rückgekoppelt auf den literarischen Ausgangspunkt, auf der Ebene der Überblendung von Zeiträumen tagtäglich und wohl auch auf der Metaebene von Erinnern und Vergessen gesetzt werden. Es hat den Anschein, daß in den gegenwärtigen Räumen, die in einzelnen Segmenten, immer wieder beworben, bereits für die Zukunft voraus konfiguriert sind, für eine nach hinten ausgelegte Zeitspur zur Orientierung des Menschen absolut kein Bedarf besteht bzw. daß der Mensch, dessen Position vorwiegend im „Human Interface“ zur Sprache kommt, eine solche Orientierung als „süße Verführung“ auffassen müßte. So dient der Verzehr des Gebäcks Madeleine heute in erster Linie dem Abbau von Frust über sozialen und gesellschaftlichen Druck, ohne den Funken einer Chance, während des Genusses auf jäh zu erfahrende, lange verschüttete Raumüberlagerungen zu stoßen, auch wenn sie nur, subjektiv möglicherweise von Interesse, die Kindheit als Handlungs- und Erlebnisraum einblenden würden.
Einerseits durchzieht ein feiner, durch Kommentare angereicherter Duktus den Beitrag ZAKHAROVS, andererseits entwickelt er einen Moment der erinnernden Begegnung zur Kriminalstory, die mit dem Einsatz gegenwärtig gebräuchlicher Waffen in der trivialen Action ihre Fortsetzung und Auflösung findet. Die Realitätsebenen „verwirklichen“ sich Schritt für Schritt, der schon anfangs zerstörte Kuchen scheint die weltweit in Gang gesetzte Diskussion zur larmoyanten Farce von Kommunikation werden zu lassen – eine Kommunikation, die vor dem Hintergrund unterschiedlich ausgebildeter Raumstrukturen geführt und letztlich im Zeit-Raum Gegenwart nach dem Schema eines absurden Thrillers abläuft. Das von ZAKHAROV als Ausschnitt gewählte Interface, die plötzlich in Bildern aufdämmernde Erfahrung des (eigenen) anderen Raumes, ist wie im literarischen Auslösemodus punktgenau und bricht am Punkt des Eintritts der Kugel in den Kuchen ab.
Die Gruppe FORMALHAUT verbindet architektonische und skulpturale Ansätze im Sinne eines – heute als unverzichtbarer Begriff in der Wirtschaftssprache kolportierten – Synergieeffektes. Von dieser Basis ausgehend fiel die Wahl auf diese Architekten/Künstler-Gruppe, um dadurch einen Beitrag in das Projekt integrieren zu können, der die Regeln, ebenso die Ideen und Visionen der Baukunst als künstlerisch angeeignete Determinanten bei den Möglichkeiten der Ausformulierung von Raum zur Sprache bringt. Für Graz hat sich Formalhaut in einer ersten Lesart auf die verschiedenen Erscheinungsformen eines raumschaffenden hautähnlichen Materials eingelassen. Gebräuchliche Einmann-Zelte, also Ready-Mades in der kunsthistorischen Terminologie seit dem Beginn der Klassischen Moderne, wurden in drei möglichen formalen Stadien präsentiert: 98 Stück im installierten Zustand auf einer abschüssigen Wiese zwischen Burggarten und Stadtpark, ein Zelt aufgeschnitten und aufgespannt auf einer Wand des White Cube – in dieser Darstellungsform den malerisch-grafischen Habitus, in der Nähe von Hard-Edge-Malerei angesiedelt, des variabel formbaren Materials repräsentierend – und etwa 20 Stück zum Bündel geschnürt, mit einem Schweizermesser und einem Stadtplan von Graz versehen, als Objekte / Multiples an der gegenüberliegenden Wand befestigt.
In allen drei Rezeptionsweisen war der Kunststoff-Haut der für den mobilen Einsatz bestimmte Materialcharakter abzulesen. Für das Projekt „Gästehaus“ wie für die anderen bisherigen Realisierungen der Gruppe ist die Fusion von Architektur und Kunst eine entscheidende Ausgangsposition im öffentlichen Raum, da sie die Kunst in einer Sprache ausformuliert, die sich wesentlich von der im Kunstraum gesprochenen unterscheidet, die Architektur hingegen um Elemente bereichern kann, die sie aufgrund ihrer utilitär bestimmten Ausrichtung eingebüßt hat. „Gästehaus“ war ein zur „Nomadologie der neunziger Jahre“ kohärentes Projekt, da es sich in der Ambivalenz des konkreten Raumschaffens und der letztendlich dem Zelt innewohnenden Ortlosigkeit ansiedelte. Die „Site-Specific-Komponente“ von Formalhaut stellte sich in der Auswahl des Areals dar: die Parklandschaft des Stadtparks, die der Erholung und der Muße im städtischen Ambiente zur Verfügung steht. Das strenge, schachbrettartige Muster signalisierte eine architektonische Anordnung von Hüllen, denen auch funktional eine architektonische Aufgabe zukommt, nämlich den persönlichen (Schlaf)Raum aus den anderen Funktionen des umgebenden Raumes auszugrenzen. Mit dem Ausgrenzen werden Positionen bestimmt und Hierarchien aufgebaut. Gleichzeitig erfolgt die Repräsentation subjektiver Bedürfnisse, die unter anderem in der „Unterkunft“ ihren Ausdruck finden.
Diese Grenzsituation, die für jedes Bauwerk charakteristisch ist, da es als mehr oder weniger kubische Gestalt den Freiraum wie den gewachsenen urbanen Raum parzelliert, also nun in Bereiche des Freien und Verbauten, des Außen und des Innen gliedert, kann sich über das Material generell auch in eine soziale Grenzsituation wenden. Im „Gästehaus“ wird die Situation in jeder Hinsicht noch konkreter, da es sich um eine typisierte mobile Architektur handelt. Sie kann auf der einen Seite für das Ausbrechen aus der wie immer definierten Heimat stehen, ein Ausbrechen, das in Form neugierigen oder abenteuerlustigen Mobilitätsstrebens auftritt, heute aber den vorhandenen Wohnstatus, mit gestiegenem Komfort auch in der „Zelle der Freiheit“ beizubehalten sucht. Auf der anderen Seite stehen transitorische Unterkünfte für im sozialen Gefüge nicht – oder nur als Außenseiter – etablierte Existenzen.
Der einladende Titel „Gästehaus“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieses „Haus“ in der speziellen Form des einfachen Zeltes seinen Ort immer bei sich hat, daß es sowohl im städtebaulichen als auch im sozialen Gefüge ortlos ist. Wer hier Gast ist, kann seinen Status nur auf die schützende Hülle beziehen, nicht auf das Gemeinwesen, es sei denn, es geht um die Ränder des sozialen Gefüges, in das man dann provisorisch aufgenommen wird. Die Gestaltveränderung des „Gästehauses“ in Richtung der kleinsten möglichen Mobilitätseinheit – als sogenanntes Raumpaket – unterstreicht den Faktor der Ortlosigkeit, fügt ihm aber das jederzeit mögliche Auftauchen von Behausungen an neuen Orten hinzu, die dann kurzfristig besetzt und zur sporadischen Heimat werden.
Matthew McCASLIN grenzt aus dem Galerieraum den eigentlichen Kunstraum aus, der wiederum aus Elementen des Realraums besteht. Mit dieser Entscheidung überlagert er drei verschiedene Ebenen, die heute für den künstlerischen Arbeitsprozeß und für den Präsentationsrahmen von Kunst entscheidend sind. Der zentral im Raum stehende Gitterkäfig ist wie eine minimalistische Skulptur aufgebaut, durch seinen Inhalt dieser Stilrichtung aber diametral entgegengesetzt. Der Blick in den Käfig, der beim Umschreiten des äußeren Rahmens ständig neue Einsichten und Konstellationen freigibt, richtet sich auf zwei aus unterschiedlichen Erfahrungsbereichen stammende Elemente und Objekte. Auf dem Boden liegen, ausgebreitet und übereinandergeschichtet, Schutt und verbrauchtes Baumaterial. Es handelt sich dabei um Zivilisationsmüll, der in seiner Auswahl überlegt und präzise auf zerstörte Architektur, auf außer Funktion gesetzte Wände und Träger, auf Aushub von Bauresten verweist. Dazwischen finden sich archaische Leitungsverbindungen, die noch – wie provisorisch – unter Strom stehen und einfache Glühbirnen zum Leuchten bringen. Abfall der Konsum- und Verbrauchsgesellschaft taucht zwischen dem Stein- und Verputzgeröll, den Brettern auf. Wie Informationssäulen ragen aus dem angehäuften Chaos Monitore, zufällig plaziert, zum Teil um neunzig Grad gedreht. In Endlosschleifen flimmert ein Gang durch einen dicht belaubten Wald über die Bildschirme, die grün erstrahlen. Das Geräusch über den Waldboden stapfender Füße, Äste knickender Tritte, Laub auseinander fegender Bewegungen begleitet diesen Spaziergang: die Landschaft als filmische Reproduktion der Landschaft. In dieser Anordnung konfrontiert McCASLIN den freien Landschaftsraum mit den Resten des Zivilisationsraumes dadurch auf ein und derselben Ebene, indem die Anordnung des Mülls nun ebenfalls als Landschaftsform gelesen werden kann.
Diese formale Annäherung gestattet quasi erst die Vergleichbarkeit von Konstruktion und Natur. Dies wird aber in der Verfeinerung der Beobachtung erst dadurch möglich, daß er auch der Landschaft eine spezifische formale Komponente zuordnet. Sie wird in einem engen Ausschnitt erfaßt – der Blickwinkel aus der Schrittebene – und verliert somit ihre geläufigen Dimensionen, die üblicherweise in der Weite, im Wechsel von flach und hoch, von tektonisch und vegetabilisch, von farbiger Vielfalt und unterschiedlichen materiellen Strukturen zur Anschauung kommen. Die erst nach und nach entdeckbaren formalen Eingriffe stellen letztendlich auch die Referenz zum rahmenden Käfig her, der nun in einer Art Rückkoppelung die Künstlichkeit der beiden anderen Raumformen unterstreicht. Mit diesen gestalterischen Veränderungen entblößt McCaslin die gewohnten Wahrnehmungsmuster ihrer Authentizität. Dem Gestaltungsanspruch des Künstlers werden die verschiedenartigen Raumformationen unterworfen, die dann auf einer neuen Ebene erscheinen: auf der eines Gestaltungsmodus, der nicht nur über die Virtualität des Raumes die Konventionen der Betrachtung und des Erlebnisses durchbricht, sondern auch im direkten Zugriff auf das bestehende „Material“, aus dem sich die Topografie unserer gewohnten Umgebung, scheinbar festgefügt und unveränderbar, zusammensetzt.
In sich geschlossen wie ein Selbstversorgungssystem, den offenen Raum ebenso markierend wie den geschlossenen, stellt Gilles BARBIER Ausschnitte aus einem Weltbetrachtungsmodell vor. Ein großer offener Kubus, durch zarte Linien aus dem Umraum „ausgeschnitten“, bildet den oberen Teil eines Ladenschranks. Im geöffneten Zustand präsentieren die Laden je einen Kosmos des Alltäglichen, wobei die einzelnen Kompartimente miteinander in Beziehung stehen. Die den einzelnen Sphären übergeordnete muß aus den sichtbar werdenden Zusammenhängen als „Informationssphäre“ bezeichnet werden. Sie wird durch die Anordnung der vielfältigen Elemente mit Bedeutungen im allgemeinen, mit der Ausbildung geschlechtsspezifischer Bereiche im besonderen quasi als Simulation des Systems, „in dem wir leben“, aufgeladen. Im freien Kubus stehen einander der männliche und der weibliche Teil des Gesamtsystems gegenüber. So repräsentiert ein Dummy aus Wachs, in dem die Gesichtszüge des Künstlers angedeutet sind, das Männliche.
Um diesen Torso, der durch die technische Behandlung vor allem die Illusion von Haut schafft und damit die menschliche Oberfläche aus den diesen Körper unmittelbar umgebenden anderen Oberflächen – in der Installation selbst als auch im weiter gefaßten Umraum – ausdifferenziert, sind Objekte angeordnet, die den täglichen Konsumbereich repräsentieren: Tiefkühlkost, Getränke, Getreidearten, verschiedene Gefäße usw. Diese Objekte hängen wie der Dummy an Nylonfäden von der Decke des offenen Kubus herab. Die Objekte sind mit dem Dummy durch einen „Lebensmittelkanal“ verbunden, der wie Leitungssysteme einer Kommunikationsanlage, z.B. Telefon oder Fax, ausgebildet ist. Diesem männlichen System steht das weibliche in Form eines Planetenringes gegenüber. Es weist ebenso einen Nukleus auf. Dieser ist als eher unbestimmte organische Gestalt ausgeformt und wird von weiblicher Unterwäsche ringförmig umgeben. Einen wesentlichen Anteil an der Bezeichnung der von BARBIER angesprochenen Systeme und deren Transformation in eine Informationsstruktur hat die zentral eingesetzte Maßstabverschiebung.
Während die Konsumobjekte und die Wäschestücke im Modell des dualistischen Systems, also in der zentralen Anordnung, erheblich verkleinert sind und der Nachbaumodus dadurch klar zutage tritt, finden sich in den Laden eben diese Objekte im Verhältnis eins zu eins zur Gebrauchsform, da es sich in diesem Status zumeist um Ready-Mades handelt. Es sind Details aus der Körpersphäre (in die skulpturale Nachbildung übertragen), der Nahrungsmittelindustrie, der Sphäre der kosmologischen Erotik, aus dem Bereich der Pornographie, dazwischen immer wieder eingelagerte Parasiten. Diese unterschiedliche Skalierung, dieser Wechsel zwischen Realobjekt und nachgebautem Modell führt zu einer Realitätsverschiebung, die unter anderem darauf abzielt, in der Gegenüberstellung die Systeme, aus denen die Gegenstände und deren gestalthafte Form entnommen sind, sichtbar zu machen und damit das Objekt aus seiner Einzigartigkeit und seinem ästhetisch akzentuierten Formenkanon zu befreien. Die objekthafte Anordnung kann an jedem Ort aufgebaut werden. Sie trägt im Sinne der „Großen Schachtel“ von Marcel Duchamp ihre Referenzpunkte in sich selbst, weil sie intentional so angelegt ist, aus sich heraus kommunikative Strukturen zu entwickeln.
Auch wenn BARBIER seine Bezugspunkte – um fest verankerte, „ewig“ kreisende Bewegungen und hierarchische Fixierungen als Metapher einer übergeordneten Ordnung zu bemühen – bis in orbitale Räume voranzutreiben scheint, fokussiert er letztlich seine Systemanalyse im überschaubaren Lebensumfeld. Für „2000 minus 3“ erwies sich der Beitrag als genuine Aussage, daß parallel zu den großen neuen Systemverbünden – in erster Linie die Telematik und der Cyberspace – die vergleichsweise alten, weiterhin in Gebrauch befindlichen, die Erfahrung gesellschaftlicher und kultureller Räume entscheidend mitbestimmenden, auf einer ebenso systematischen Ebene erfaßt werden können und müssen, wenn die Darstellung von virulenten Raumsegmenten Anliegen und Ziel einer auf Orientierung bezogenen künstlerischen Handlungsweise ist. Das Merkmal der Systematik wird ihnen nicht nachträglich als Stempel aufgedrückt, sondern über ein genau beobachtetes vorliegendes Profil in einzelnen Räumen, in denen bestimmte menschliche Interessen und Vorgangsweisen auftreten und stattfinden, recherchiert.
MANUSKRIPT TEIL 2 ZU: 2000 MINUS 3 / ARTSPACE PLUS INTERFACE, NEUE GALERIE, STEIRISCHER HEBRST, GRAZ 1997, CD-ROM
ABBILDUNGEN: NEUE GALERIE GRAZ, STEIRISCHER HERBST
FOTOS: NEUE GALERIE GRAZ , STEIRISCHER HERBST, ARCHIV FENZ-KORTSCHAK
PUBLIKATION
MANUSKRIPT TEIL 1: 2000 MINUS 3 / ARTSPACE PLUS INTERFACE, NEUE GALERIE, STEIRISCHER HEBRST, GRAZ 1997, CD-ROM
↑1 | Michel Foucault, Andere Räume. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34 ff. |
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↑2 | Vgl. Franz Xaver Baiers radikalen Raumbegriff und den Versuch von Werner Fenz, gegenwärtige mediale Schritte im Raum aufzuzeigen. Werner Fenz, Mediale Schritte im Raum – Bewegungen und ihre neuen Dimensionen. In: 2000 minus 3, ArtSpace plus Interface, Ausstellungskatalog, Neue Galerie Graz, Wien: Triton, 1997, S. 39. |
↑3 | Vgl. Copyshop, Edition ID-Archiv: Berlin 1993, S. 40 |
↑4 | Vgl. borderlines Konzept, programmheft, steirischer herbst 97, Graz 1997, S. 44 – 45. |
↑5 | Der Bazar vor dem Pariser Centre Pompidou und die mit orientalischen Teppichen verhängte und dadurch „korrigierte“ funktionalistische Fassade kann dafür ein weiteres präzises Beispiel sein |
↑6 | Vgl. Geert Lovnik und Pit Schultz, Aufruf zur Netzkritik. In: Netzkritik. Hrsg. von Dettima, Ed. ID-Archiv, Berlin 1997, S. 6 -7. |
↑7 | Vilém Flusser, Digitaler Schein. In: Vilém Flusser, Medienkultur, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch, 1997, T3. S. 202 – 203. |
↑8 | Vgl.: Marshall McLuhan, Das resonierende Interwall. In: Marshall McLuhan-Reader, Mannheim: Bollmann 1997, S. 223f. |
↑9 | Thomas Feuerstein, der Künstler als Ataver, http://www.myzel.net/biophily/dka/text_de.html veröffentlicht 1996, gesehen: 10.10.2017 |
↑10 | Diese Arbeitsmethodik verweist auf eine Technisierung von Welt, die am Ende des 20. Jhdts. uns diese zu einer Oberfläche transformiert darstellt, auf der alle Objekte, egal ob es sich um Tische, Autos, ganze Städte oder Lebewesen handelt, als Texturen lesbar und entcodierbar erscheinen. Wissenschaft, Technik und Industrie programmieren unsere alltäglichen Lebenszusammenhänge, dechiffrieren Natur und erstellen neue Schriften in Form neuer Produkte, womit nach Feuerstein die gesamte Welt zur Weltliteratur geworden ist. Werner Fenz, Thomas Feuerstein. In: 2000 minus 3, ArtSpace plus Interface, Ausstellungskatalog, op. cit., S. 39. |
↑11 | Niklas Luhmann, Die Beobachtung erster und die Beobachtung zweiter Ordnung. In: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, T5. 1997, S. 93 – 95. |
↑12 | Die objektiv ablesbare intensivierte Arbeit an den Schnittstellen macht einerseits die Welt als Anhäufung systemischer Räume sichtbar und differenziert andererseits eine neue mediale Begrifflichkeit aus. Sie steht als konkrete Versuchsanordnung im Mittelpunkt des Projekts. Über Internet abrufbare Projekte, mit dem weltweiten Netz direkt verknüpfte Arbeiten stehen neben anderen Bildpotentialen und Handlungsformen, die ebenso das kommunikative Moment im Raum der Mediengesellschaft künstlerisch instrumentalisieren. Vgl. Werner Fenz, Mediale Schritte im Raum – Bewegungen und ihre neuen Dimensionen. In: 2000 minus 3, op. cit., S. 8. |
↑13 | Thomas Feuerstein, Diskurs der Systeme. Kunst als Schnittstellenmultiplikator. Wien: Triton, 1997 S. 8 f. |
↑14 | vgl. z.B. Horst Gerhard Haberl: „Der steirische herbst verfolgt mit seinem programmatischen Leitmotiv einer ‚Nomadologie der Neunziger‘ die Entwicklung einer Kultur der Mobilität“. In: Programmheft steirischer herbst 92, S. 5. |
↑15 | Vgl. Niklas Luhmann, op. cit., S. 93 – 95. |
↑16 | Vgl. Vilém Flusser, op. cit., S. 202 – 203 |
↑17 | z.B. http://www.dissense.de/kv/zakharov.html |