Der Kunsthistoriker als Diener zweier Herren?

Der Kunsthistoriker als Diener zweier Herren?

Kulturstiege NOMADIN, Rastplatz K.U.L.M 2002

Kulturstiege NOMADIN, Rastplatz K.U.L.M 2002

Der Titel meines Referates impliziert eine an und für sich unangenehme Situation: Wer will schon überhaupt und gar zwei Herren dienen.1Ich bin mir auch bewußt, daß ich mit dieser sprachlichen Formulierung sehr nahe an Martin Warnkes Analysen populärwissenschaftlicher Texte in „Wissenschaft als Knechtungsakt“ herankomme, ohne allerdings tatsächlich den darin abgehandelten Macht- und Unterdrückungsraster heraufbeschwören zu wollen. vgl. Marint Warnke, Wissenschaft als Knechtungsakt, in: ders., Künstler, Kunsthistoriker, Museen, Luzern u. Frankfurt/M. 1979, S. 99–107. Niemand sollte auch auf zwei Sesseln sitzen, weil er dann zwischen beiden durchfallen könnte usw. Die Redensarten des Volkes verraten tatsächlich bisweilen einen Gerechtigkeitssinn und die Fähigkeit, logisch zu denken: Denn wer zwei Herren dient, heißt es, kann es keinem von beiden recht machen.

Wer aber sind die beiden „Herren“ des Kunsthistorikers? Um diese Frage zu beantworten, muß ich auch den Kunsthistoriker definieren, den ich im Auge habe: Ich spreche mit Absicht in der heute gängigen Diktion vom Museumsmann – es tut mir leid, aber der Begriff Museumsfrau wird bisher wirklich noch nicht verwendet. Museumsmann, das ist zur Zeit griffiger, kompakter als Direktor oder Museumsbeamter. Gemeint ist also jene Spezies, die sich nach Absolvierung des Studiums entschieden hat, die Museumslaufbahn zu ergreifen. Dieses Berufsbild unterlag in den letzten Jahrzehnten wie das Selbstverständnis und die Definition des Museums einem starken Wandel. Hieß es von der Institution im „Großen Brockhaus“ 1955 unter anderem „nur“: „… seit dem 18. Jahrhundert wissenschaftliche und Kunstsammlungen und die sie beherbergenden Bauten“, bevor auf Arten und Geschichte näher eingegangen wurde, und unter „Aufgaben“: „… ihre meist aus einem ursprünglich festen Zusammenhang herausgerissenen Bestände so aufzustellen, daß der Besucher sich in sie versenken kann“2Der Große Brockhaus, Wiesbaden 1955, Bd. 7, S. 210., so formulierte der Mitarbeiter in Meyers Enzyklopädischem Lexikon von 1976: „Es (das Museum) dient der Sammlung, Bewahrung, Erforschung und Wiederherstellung von Kulturgut, v.a. aber dessen sinnvoller Präsentation und Erläuterung. Es versucht, Beziehungen zur Gegenwart herzustellen, zeigt anhand von Sonderausstellungen und mit Hilfe von Film, Diareihen, Tonbändern, Führungen, Diskussionen, Seminaren, Kursen usw. Querverbindungen zwischen den einzelnen Museumsbeständen und zwischen diesen einerseits und der Gegenwart andererseits auf. Künstler und Pädagogen arbeiten im Museum; Veranstaltungen für Studenten, Schüler und Kinder im Vorschulalter finden darin statt … Das Moderne Museum will eine Stätte der Information, des Gesprächs und der Meinungsbildung sein …“.3Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim, Wien, Zürich 1978, Bd. 15/16, S. 632.

Wurde das Museum als Informationsträger vor knapp zehn Jahren definitorisch aufgewertet oder wurde ihm nur Ballast – artfremder oder gar ideologischer – in das Körbchen geworfen, sodaß es nicht mehr zu wissenschaftlichen Höhenflügen taugt? Aber wieso wissenschaftlich? Trennt nicht auch der „Brockhaus“ zwischen wissenschaftlichen und Kunstsammlungen? Freilich wäre zu prüfen, ob es sich um eine explizite Polarisierung oder nur um eine unglückselige lexikalische Sprachdefinition handelt. Wir könnten den Eindruck gewinnen, daß es sich um die wissenschaftliche Zoologie auf der einen und die Kunst auf der anderen Seite handelt. Wir könnten aber auch mit Stolz vermerken, daß die Kunst deutlich gegenüber allen anderen Museumsgattungen abgesetzt wird, wenn nicht der Stachel der fehlenden Wissenschaftlichkeit tief im Fleisch sitzen würde. Definition hin oder her: die Frage der wissenschaftlichen und publizistischen Verantwortlichkeit des Museumsmannes ist heute aktueller denn je zuvor. Aus der Frage ist ein Fragenkomplex geworden, der mich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückführt. Gibt es also eine Kunstgeschichte, gibt es eine Kunstwissenschaft, denen sich sowohl der universitäre Forscher und Lehrer als auch der Kunsthistoriker im Museum verpflichtet fühlen kann? Handelt es sich um die Frage unterschiedlicher Methoden, Ideologien, Strategien? Sitzen wir alle auf denselben Stühlen oder fallen wir Museumsleute zwischen beiden durch? Zwischen dem der Forschungsdisziplin und dem der nicht systematisierten der Vermittlung? Dilettieren wir auf beiden Gebieten aufgrund einer eklatanten Entscheidungsschwäche oder aus Angst vor definitiver Konsequenz? Stürzt uns die von außen und von einigen von uns selbst erhobene Forderung nach Vermittlung in den Gewissensnotstand, entweder den mehr als nur tagespolitischen Ruf nach dem „Medium Museum“ ungehört verhallen zu lassen, um der Forschungstätigkeit nicht untreu zu werden oder unvorbereitet und nicht ausgebildet auf einem Feld zu agieren, auf dem uns der ungewohnte und daher als rauh empfundene Wind der Pädagogik um die Ohren bläst? Gibt es nur dieses Entweder-Oder, nämlich dem Fach oder einer didaktischen Aufbereitung von Erkenntnissen zu dienen?

In der jüngeren Literatur wie auch in der vorgelebten Praxis stellt sich das Fragenpaar meist nicht als dialektischer Prozeß dar, sondern als Problem, das nur aus diametral entgegengesetzten Blickwinkeln behandelt wird. Mehr als einmal zeigt sich dabei, daß auch die Forschungstätigkeit im Museum einer Legitimation bedarf, daß aber dennoch Forderungen in dieser Richtung quantitativ geringer sind und oftmals nur als Reaktion gegenüber der „didaktischen Mode“ formuliert werden. Das beweist wohl deutlich, daß zumindest das Sammeln und Bewahren als zeitresistente Faktoren des Museumsbetriebes auch heute noch sein fast ausschließliches Selbstverständnis ausmachen. Noch 1970 wird für die Forschung in unseren Instituten generell für den naturwissenschaftlichen wie für den kulturwissenschaftlichen Zweig von Wilhelm Schäfer formuliert: „Der Titel dieses Beitrags (Museum und Forschung) will nicht die Frage stellen, ob Museum und Forschung etwas miteinander zu tun haben. Denn darin gibt es wohl keine Frage. – Es ist aber wohl nötig, heute zu fragen, wie im Museum geforscht werden soll und welche wissenschaftlichen Fragestellungen besonders im Museum, oder ausschließlich im Museum, zu behandeln sind.“4Wilhem Schäfer, Museum und Forschung, in: Museum und Kunst. Beiträge für Alfred Hentzen, Hamburg 1970, S. 197–206, S. 197. Der Verfasser kommt weiters zur Anschauung, daß „das Museum und die vom Morphologischen ausgehende wissenschaftliche Durchdringung der Objekte … ursächlich aufs engste zusammengehören“.5W. Schäfer, op. cit., S.197. Er stellt fest, daß „Beschreiben – Vergleichen – Ordnen die 3 Stufen sind, aus welchen sich jegliches Verständnis, welches sich mit den Mitteln der Morphologie erreichen läßt, aufbaut“. „Sammlungen“, heißt es hier weiter, „bleiben toter Besitz, wenn es nicht gelingt, sie zu öffnen für alle diejenigen, welchen der wissenschaftliche Zutritt zu ihrer Substanz notwendige Voraussetzung ist … Die geforderte Transparenz der Sammlung wird allein durch den Katalog erreicht. Kataloge bringen den Überblick, sie führen erst das Heer der toten Gestalten zu einer zweiten Verlebendigung … Aber wir wissen auch, wie geringen Dank und wie geringen wissenschaftlichen Ruhm die Arbeit an Katalogen einbringt, obwohl sie in besonderem Maße Arbeit für andere ist“.6W. Schäfer, op. cit., S. 199–200.

Diese Sätze zeichnen das Bild eines Museumsmannes, der mit Geduld und Akribie seine Bestände ordnet und vergleichend beschreibt, dessen Erfahrungsreichtum aus den Gestalten seiner Objekte besteht und der sich selbst, was die Wissenschaftlichkeit betrifft, in der Rolle des Grundlagenforschers sieht, unbedankt und opferbereit für die anderen Kollegen, denen er „wissenschaftlichen Zutritt“ – was immer das bedeuten möge – verschafft. Ich wage zu behaupten, daß es dieses zusätzlich von Kennerschaft und sicherer Hand beim Ankauf von neuen Sammlungsgegenständen getragene Credo auch in unserem Fachbereich und auch heute noch gibt. Selbstgenügsam taucht das Problem der Suche neuer Orientierungspunkte gar nicht erst auf und die Frage nach den Zielvorstellungen einer Vermittlung vermag hier als irrelevant nicht zu greifen. Das Museum ist, ohne Rücksicht auf den Grad seiner Wirkung in der Öffentlichkeit, öffentlich zugänglich, die Erkenntnisse hingegen stehen der weiterführenden Forschung – gemeint ist wohl die Kathederforschung der Universitäten – zur Verfügung.

Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der Definition der Rolle des Kunsthistorikers von Seiten der Kunstvermittlung aus. Kann er, dessen Ausbildung „in erster Linie Anleitung zu selbständigem Forschen heißen muß“ 7von Einem zit. nach Irene Below, (Hg.), Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, S. 5. an einem Ort, „an dem die Versenkung in die Objekte und das Glück der Unbefangenheit, vom Kunstwerk ergriffen und beeindruckt zu werden, nicht durch ein stückweises Wissen ergänzt werden sollte“ 8Heinz Ladendorf, Das Museum – Geschichte, Aufgaben, Probleme, in: Museologie. Seminarbericht der Deutschen UNESCO-Kommission Nr. 18, Pullach bei München 1973, S. 14–28, S. 22., überhaupt in dieser Richtung wirken? Welche Aufgaben kann er in einem Museum wahrnehmen, das „das zu Sehende für jedermann sichtbar machen will“ (Historisches Museum Frankfurt), wenn es stimmt, daß unter Kunstvermittlung nicht die Popularisierung kunsthistorischer Fachinhalte verstanden werden darf ?9Irene Below, op. cit., S. 8.

Logischerweise müßte dann eine Trennung zwischen „wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Kunsterfahrung“ erfolgen, eine Unterscheidung zwischen einer „ersten und einer zweiten Kunstwissenschaft“, oder gar eine Aufteilung in eine Kunstgeschichte und in eine Kunstbetrachtung aus den Tagen Wölfflins und Lichtwarks. Bedarf es des Kunsthistorikers, um den Kindern das Kochen einer Erdäpfelsuppe vor oder nach dem Museumsrundgang schmackhaft zu machen, – oder gar sie mit dieser Aussicht ins Museum zu locken – bedarf es seiner, um die Walkmans der Erwachsenen mit leicht verständlichen Texten zu füttern, die Schauräume in ein buntes Szenarium voller Effekte und Überraschungen zu verwandeln?

Jahrzehnte früher als in Österreich fand in der Bundesrepublik, in Großbritannien und in den Niederlanden jenes Umdenken im Verhältnis der Museen zur Öffentlichkeit statt, das weltweit die Diskussion um museumsdidaktische und museumspädagogische Konzepte in Gang setzte und in die die USA aufgrund ihrer anders gearteten Strukturen neukonzipierte Museumstypen einbrachten. Ein Großteil dieser Museen ist mit Museumspädagogen bestückt, übergreifend haben sich zusätzlich kunstpädagogische Zentren etabliert. Also ist für die Vermittlung in weitreichend erprobten Ansätzen ohnedies gesorgt? Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die Effizienz museumspädagogischer Konzepte im Einzelnen zu untersuchen, sondern ich möchte modellhaft und anhand eines praktischen Beispiels die Rolle des Kunsthistorikers im Vermittlungsprozeß und vor dem Hintergrund der tatsächlichen Öffnung der Museen für das Publikum – „das zu Sehende für jedermann sichtbar machen“ – untersuchen, jenes Kunsthistorikers, der die Verwertung seiner wissenschaftlichen Forschungen als Verantwortung gegenüber der Gesellschaft empfindet. Auch unter den Voraussetzungen, daß eine tatsächliche kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische Integration möglicherweise weder motivierbar noch praktikabel ist; und daß der Kunsthistoriker nicht der einzige Vermittler im Museum zu sein braucht, ohne sich vor der eben erwähnten Verantwortung zu drücken. Diese gäbe er dann aus der Hand, wenn er bei hermeneutischen Forschungsanliegen und einer ignoranten Präsentation von ständigen Sammlungen wie Sonderausstellungen bleiben würde und nur das Haus den Pädagogen, Didaktikern und dilettierenden Hobbyvermittlern öffnete, mehr unter kulturpolitischem Zwang denn aus Überzeugung, da mehr Besucher – die Lehrer und die Volksbildner würden dann schon Reklame machen für den Museumsbesuch – allemal noch ein handfestes, weil statistisch auflistbares Argument für den Stellenwert eines Museums sind.

Nicht zu diesem mehrfach praktizierten Scheingefecht möchte ich im Folgenden einige Fragen stellen, sondern zu einer vorübergehend „angewandte Kunstgeschichte“ genannten Haltung, die den so agierenden Museumsmann nicht als unroutinierten „Sonntagsfahrer“ in Sachen Kunstvermittlung von vornherein zu einer gefährlichen Erscheinung auf den mit seriösen Methodenansprüchen gepflasterten Straßen seines Faches macht. Werner Hofmann, der sowohl in einer strengen wissenschaftlichen Disziplin unseres Faches als auch in der Zusammenstellung und Präsentation von Ausstellungen ein unverdächtiger Zeitzeuge ist, verfaßte in seinen „Bruchlinien“ (1979) eine meist überlesene, in unserem Zusammenhang jedoch bemerkenswerte Prämisse: „Diese Aufsätze“, heißt es im Vorwort an erster Stelle, „sind nicht Begleitstimmen eines akademischen Lehramtes, sondern neben und aus der musealen Praxis entstanden, dieser verpflichtet und als Anregungen wieder auf sie gerichtet. Ich erwähne diesen Wechselbezug, weil er daran erinnert, daß Museumstätigkeit … nicht problemabstinent verlaufen muß. Ich trete damit der Auffassung entgegen, das Museum habe sich auf kennerschaftliches Wählen und die Befriedigung der Augenfreude zu beschränken, also nur die sinnlichen Qualitäten des Kunstwerkes darzubieten und dieses Rohmaterial der Analyse der Kathederwissenschaft zu überlassen. Das erinnert fatal an die Unterscheidung zwischen einer ersten und einer zweiten Kunstwissenschaft. Problem- und Theoriebewußtsein haben der musealen Konzeption nie geschadet, wenn man davon absieht, daß sie den nur kulinarisch orientierten Mäzen nicht gerade ins Haus ziehen. Das wird aufgewogen durch den Beitrag, den ein solches Bewußtsein für die Forschung (und deren Wirkung in der Öffentlichkeit) zu erbringen vermag, indem es das Kunstwerk aus der Fetisch-Aura des Schatzhauses in die Koordinaten wissenschaftlicher Fragwürdigkeiten versetzt. Seit etwa zehn Jahren hat sich diese Tendenz durchgesetzt: Davon profitieren die Hochschullehrer ebenso wie die Kollegen an den Museen, besonders aber, das lassen die Eintrittsstatistiken erkennen, die Besucher.“10Werner Hofmann, Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München 1979, S. 7.

In diesem Bekenntnis nimmt das In-Beziehung-Setzen eines Problem- und Theoriebewußtseins mit und vor den sinnlichen Qualitäten des Kunstwerks eine „Sattelstellung“11Werner  Hofman, op.cit. ein. Daß dieser Ansatz kein durchgefeilt didaktischer oder pädagogischer ist, scheint klar. Doch dem Wesen nach zielt er auf eine mit den Methoden der Wissenschaft erzeugte „Aufmerksamkeitserregung“ und überläßt den Besucher nicht der kontemplativen Versenkung, bei der er sich wohl in Ruhe – aber nicht einmal die ist in den großen Touristenmuseen mit ihren wertvollen Beständen, die „für sich selbst sprechen“ gewährleistet – aber auch in Einsamkeit wiederfindet. Die Formulierung eines Problembewußtseins, das ohne an Seriosität einzubüßen, ja nicht ausschließlich im Fragenkatalog des Faches beheimatet sein muß, sondern sich auch in der Rezeptionsebene des Adressaten verankern läßt, vermag ihn durchaus aus der Isolation gegenüber dem Kunstwerk zu befreien. Dazu gehört neben vielen anderen Zugangsmöglichkeiten, die man ihm öffnen oder für ihn bereithalten sollte, die Fähigkeit, das betreffende künstlerische Gebilde lesen zu können, an erster Stelle genannt. Denn sind uns wirklich immer und ohne Einschränkung die „Modi der bildlichen Phantasie“ der Vergangenheit 12Otto Pächt, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, in: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften, München 1977, S. 187–300, S. 187, 191. und der Gegenwart vertraut?  Was Pächt unter den „Vokabeln der Sprache der Kunstwerke“ versteht, definiert er nicht nur als die Sitten des äußeren Lebens, sondern auch als Darstellungssitten, Seh- und Denkgewohnheiten. Und es hätte nicht seines ausdrücklichen Hinweises bedurft, daß sie unsere praktische Arbeit, sei es als Entwicklungshistoriker oder als Museumsleute betreffen, um hier einen gerade für den im Museum tätigen Kunsthistoriker zentralen Problemkreis anzusprechen.

Die „Modi der bildlichen Phantasie“ eröffnen uns und in weiterer Folge dem Publikum erst den Zugang zu der Individualität eines künstlerischen Gebildes, zu seiner besonderen Optik und seinem Sinngehalt. Ich weiß, daß ich Pächt gänzlich für die Beschreibung der wissenschaftlichen Tätigkeit am Museum vereinnahme, wenn ich ihn weiter zitiere und den Kontext für unseren Zusammenhang beanspruche: „Da immer schon Wissen in unserem Sehen ist und dieses Wissen als eine Brille fungiert, die auch verzeichnend wirken kann, ist es manchmal gut, sich dümmer zu stellen als man ist und sich zu bemühen, die Dinge in möglichster Naivität anzuschauen“.13O. Pächt, op. cit., S. 206. Diese Rückführung auf eine Grunderfahrung aber vermag einen Kristallisationspunkt in der Begegnung mit künstlerischen Objekten der Vergangenheit und Gegenwart zu schaffen. Denn es sind, wie die Erfahrung lehrt, in 90 von 100 Fällen in erster Linie staunende Fragen vor der Gestalt des Kunstwerks, deren mehr oder minder plausible Beantwortungsversuche durch das Objekt selbst oder seinen Interpreten dann auf der Seite des Rezipienten über Annäherungsbereitschaft oder Abwehrhaltung entscheidet. Von der einmal geweckten und für’s Erste befriedigten Neugier aus kann der Betrachtungsraster Schritt für Schritt aufgebaut werden. Daß ein solches, immer wieder neu zu zeichnendes, zunächst rein visuelles Koordinatensystem den auf Verwertung seiner wissenschaftlichen Forschung ausgerichteten Kunsthistoriker ebenso fordert wie den Besucher, wage ich zu behaupten.

Die Chance, neue Erkenntnisse zu gewinnen, liegt nicht nur auf Seiten des Publikums. Ob der einmal aufgegriffene Ansatz nun in weiterer Folge auf die Ableitung oder die Konfrontation, auf die formanalytische Ebene oder auf die entwicklungsgeschichtliche zielt, auf das Feld der rezeptionsästhetischen Forschung, auf das des Strukturalismus oder auf den soziokulturellen Raster, muß den jeweils angestrebten Sinnzusammenhängen überlassen bleiben. So gesehen, eröffnen sich gerade im Museum, vor dem Objekt also, sowohl in der Einzelpräsentation als auch in der themenspezifischen Zusammenstellung, wenn es sich nicht gerade um die Fensterformen ostpreußischer Bürgerhäuser oder das Auflisten der Anzahl der Knitterfalten in gotischen Fassadenskulpturen handelt, Möglichkeiten, zu neuen Verständniszusammenhängen zu gelangen. Die an einem Ort in Szene gesetzte auswählende Zusammenschau der Werke vermag allein schon durch die besondere Disposition genügend Impulse freizusetzen, die für weitere wissenschaftliche Aufgabenstellungen, sei es in einer Fortsetzung und Weiterbearbeitung des Themas – zumal dann, wenn Etat und Raum, aber auch die Aufnahmefähigkeit des Publikums natürliche Grenzen setzen – relevant sind. Hier könnte somit zusätzlich ein neues Forschungsklima entstehen, vor allem auch dann, wenn Innovation auf Museumsseite und ein Abrücken von einem speziellen, eng begrenzten Fragenkatalog auf Universitätsseite dieses Klima fördern.

Um zur Fragestellung einer möglichen Kongruenz von Wissenschaft und Vermittlung zurückzukehren, muß hier Folgendes präzisiert werden: Indem der Kunsthistoriker, namentlich der im Museum tätige, das Einzelwerk oder Werkgruppen, ein und derselben Zeit oder verschiedenen kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen entnommen, mit seinem ihm zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Instrumentarium abfragt, dessen offengelegte Transparenz nicht nur ihm, sondern auch dem Publikum Klarheit über das Vorgehen zu verschaffen vermag, leistet er einen ersten Beitrag zu einer Vermittlungshaltung. Es ist leider zur Mode geworden, die auch methodisch notwendige Transparenz im Nachhinein, spätestens bei der Verfassung eines Textes, zu verschlüsseln. Formelhaftigkeit und Geheimcodes ersetzen die von einem geschulten Auge, einem historischen Wissen und einem Quellenstudium – seien es Stiftsarchive oder das Gespräch und die Diskussion mit dem lebenden Künstler – zu Tage geförderten Erkenntnisse. Denn Hand aufs Herz: es ist manchmal tatsächlich nützlich, „sich dümmer zu stellen als man ist und sich zu bemühen, die Dinge in möglichster Naivität anzuschauen“, das heißt mit anderen Worten, die Kontrollfunktion der einfachen Fragestellungen aus verschiedensten Blickwinkeln anzuwenden.

Für die intendierte Vermittlung könnten wir daraus folgern: 1) eine neuerliche Codierung der Sachverhalte bringt dem Wissenschafter kaum mehr Ansehen als eine fundierte Beschreibung der Untersuchungsmethoden. Dies wurde – offenbar einer Tradition folgend – von unseren großen alten Kollegen, die in England Aufenthalt genommen haben, erkannt, sodaß ihre Texte auch von uns lieber und mit mehr Spannung gelesen werden als viele andere! 2) Man kann dem Publikum ruhig alles sagen. Das heißt, wenn der Museumsmann Konzept und Strategie seiner Intentionen und die dabei gewonnenen Einsichten klarzulegen imstande ist, sollte er es auch tun. Freilich stärker als der freie Methodiker oder der universitäre Forscher eingedenk der Tatsache, daß und wo „Bruchlinien“ in der Kommunikation mit dem Betrachter auftreten können. Also doch ein Diener zweier Herren? Taucht jetzt an der Wand das Menetekel der Popularisierung kunsthistorischer Fachinhalte auf? Ich höre die süffisant vorgetragene, negativ besetzte Bezeichnung „Volksbildnerei“. Ich lasse diese Einwände dann gelten, wenn die theoretische Entwicklung einer neuen Methodenlehre auf dem Prüfstand steht, aber keinesfalls im Museum.

Was aber kann der Museumsmann über die Hand in Hand mit seiner wissenschaftlich zur Deckung zu bringenden „Aufmerksamkeitserregung“, über die methodisch begründbare Transparenz hinaus für die Vermittlung weiters und notwendigerweise leisten? Ich denke hier an den ersten wesentlichen Schritt in Richtung einer „Schule des Sehens“. Mit seinem geschulten und immer wieder sich schulenden Auge nähert er sich den jeweils verschiedenen Phänomenen. Sein eigener fortgesetzter Befragungsakt vermag im Transfer zum Staunen und zum Fragenkatalog des Publikums wichtige Berührungspunkte zu schaffen. Kunstmuseen sind in ihrer Gesamtheit nicht auch, sondern in erster Linie eine „Schule des Sehens“. Diese sollte aber nicht, gerade weil es sich um eine Art Vorbereitungskurs handelt, leichtfertig aus der Hand gegeben werden, weil zu populärwissenschaftlich oder überhaupt nicht vom Fachmann zu bewältigen. Von ihr aus erst kann die optische, geistige und gesellschaftliche Eingrenzung, Zuordnung und Erfahrbarkeit von Artefakten erfolgen. Das Kunstwerk sollte nicht Vorwand zur Erörterung historischer – was Warnke für das Historische Museum in Frankfurt am Main nachgewiesen hat 14Martin Warnke, Museum als Lernort: Das Historische Museum in Frankfurt, in: ders., Künstler, Kunsthistoriker, Museen, op. cit., S. 112–118. – wie gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Bezüge sein, sondern Ausgangspunkt mit all den nur ihm innewohnenden Dimensionen. Es bedeutet nicht die Absage an die notwendigen geistigen Bezugssysteme, wenn wir Museumsleute fordern und gleichzeitig die Voraussetzungen dafür schaffen sollten, sozusagen als vordringliche Aufgabe, „Mittel und Wege zu finden, die die Ausbildung unserer Aufnahmsorgane zu fördern vermögen“.15O. Pächt, op. cit., S. 187.

Gehen wir selbst den umgekehrten Weg, oder lassen wir zu, daß er von der Kunstvermittlung beschritten wird, nämlich, daß die wie auch immer aufbereitete Zeitzeugenschaft zum einzig lohnenden Erfahrungswert wird, dann klammern wir aus dem Kunstwerk aus, was seine unmittelbare Erlebnisqualität ausmacht: also die sinnliche, bildliche Erscheinungsform, die Zeichensprache in ihrem ästhetischen und kulturhistorischen Charakter. Damit laufen wir auch Gefahr, das vom Künstler hergestellte Objekt als Paradigma menschlicher Vorstellungskraft aus den Augen zu verlieren. Lassen Sie mich nochmals klarstellen, daß ich von der jeweils historischen Verankerung jedes Kunstwerks, des „hohen“ wie des „trivialen“, überzeugt bin und festhalten, daß Kunst notwendigerweise Ausdruck, Verarbeitung und Bewältigung jener Zeit ist, die sie hervorgebracht hat. Aber gleichzeitig bezweifle ich, daß es notwendig und sinnvoll ist, sie bei der ersten Annäherung sofort nach diesem Kontext abzufragen. Natürlich gehen die Meinungen über die Einstiegsplattform auch unter Kunsthistorikern auseinander. Ist nicht der eben genannte Kontext vergleichbar mit der „beliebten Flucht in die Ikonographie (bei der) der geheime Wunsch mitspielt, zum Ziele zu kommen, ohne die beschwerliche Umstellung des Sehens vornehmen zu müssen?“16O. Pächt, op. cit., S. 209.Hans Belting begegnet dem Problem scheinbar großzügiger: „Das Kunstverständnis gerät nicht in Gefahr, wenn wir uns nicht mehr allein darauf beschränken, über die künstlerische Schöpfung an sich zu reden und sie auf der Entwicklungsbahn der Stile zu orten. Allerdings darf die Frage nach den Zugangsbedingungen des Werks kein Alibi dafür werden, die Analyse der künstlerischen Form zu vernachlässigen. Diese Frage hat nur dann einen Sinn, wenn sie die Form in ein neues, bisher nicht gesehenes Licht setzt“.17Hans Belting, Das Werk im Kontext, in: Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, S. 186–202, S. 187.

Wir haben es in der bildenden Kunst mit visuellen Erscheinungen zu tun, mit Bild oder Raum gewordenen Manifestationen geistiger Erfahrungen und kreativer Phantasie. Warum nicht zuerst das Bild oder den Raum nach den „Modi“ abzufragen, nach den Vokabeln, nach der Sprache? Das Schärfen unserer Sinne für bildhafte Formulierungen erfordert, zumal in der heutigen Zeit, unsere ganze Aufmerksamkeit, unser ganzes Bemühen. Material und Farbe, Strich und Form verlieren zunehmend ihren gewohnten Reizwert, je sperriger und weniger schablonenhaft, je kühner und nach weniger vertrauten Mustern sie ausgerichtet sind. Das gilt für die Gegenwart ebenso wie für die frühe Vergangenheit, für die es Pacht exemplarisch nachgewiesen hat. Diese Bildstruktur, diese Darstellungsmuster erfahrbar zu machen, ist auch eine Aufgabe des Kunsthistorikers. Ich glaube nicht, daß es die Kunstvermittlung ist, die für eine größere Öffentlichkeit durch das Festhalten ihrer gesellschaftlichen Funktionen begründet werden muß, sondern daß diese Forderung die Kunst selbst betrifft. Der knappe Unterschied in der Definition versucht ins Licht zu rücken, daß es dabei um das Primat der Phänomene geht.

Es ist richtig, daß erst die in der Mehrzahl aus den 70er Jahren stammenden prägnanten Formulierungen der engagierten Kunstvermittler einen Umdenkprozeß im Selbstverständnis der Museen herbeigeführt haben. Auch dann, wenn sie in ihrem Anspruch über das Ziel hinausgeschossen haben. Die Malschulen an den großen Kunstinstitutionen, die gelegentlichen, unsystematischen Versuche in Kunstbetrachtung entpuppten sich vor dem Hintergrund der massiv und systematisch vorgetragenen Desiderata als oberflächliche Befriedigungsversuche des schlechten Gewissens. Im Aufzeigen starrer Strukturen, im Hinweis auf die tatsächliche Abkapselung öffentlicher Institutionen von den Möglichkeiten und Bedürfnissen einer nicht motivierten Öffentlichkeit liegen die Verdienste jener vielschichtigen und selbstverständlich methodisch inkohärenten Bewegungen, die vom Museum aus Aussagen postulierten, „die für die Lebenspraxis eines größeren Publikums von Belang sind“18I. Below, Probleme der „Werkbetrachtung“ – Lichtwark und die Folgen, in: Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, op. cit., S. 83–135, S. 91. und im Musentempel den abgestreiften Kokon eines neuen Lernortes sahen.

Wirklich gegriffen haben diese Ideen dort, wo sie auf das fruchtbare Interesse des Kunsthistorikers oder Kunstwissenschafters stießen oder einer bereits vorhandenen Handlungsbereitschaft neue Argumentationen lieferten. Dort verloren sie auch ihren affirmativen Charakter und deckten sich mit den neu überdachten und formulierten Ansprüchen an die Wissenschaft ebenso wie an das Berufsbild des Museumsmannes. Wie weit dieses überhaupt zu definieren ist, hängt meines Erachtens nicht mehr länger von dem separierten Selbstverständnis des Museums und der Universität ab, sondern vom Ineinandergreifen ihrer Anliegen und Aufgaben als Ausbildungsstätten. Daß sich diese wechselweise durchdringen, scheint mir nicht nur im Bereich schönfärbender Utopien zu liegen. Angehende Wissenschafter sollten stärker als bisher mit der Organisation und der auf Öffentlichkeit abzielenden Ausrichtung eines Museums vertraut gemacht werden. Wie schon beim Wissenschaftsverständnis des Museumsmannes meine ich damit nicht das handwerkliche Rüstzeug der Objektaufnahme, des Inventarisierens und der systematischen Erfassung. Nicht das Bestimmen, Ordnen und Beschreiben, sondern das Konzept des Präsentierens und Vermittelns. Wenn man weiß, wieviel Mühe das Erfassen und das Begründen dieser Säulen der Museumsarbeit schon dem Fachstudenten bereitet, muß man sich über die Angst so mancher Nichtschwimmer vor dem „Sprung ins kalte Wasser“, der dem Publikum in der Regel zugemutet wird, nicht wundern. Es sollte bei der bisher vorgelegten Skizze nicht darum gehen, daß wir (Museumsleute) den Betrachter an einem Zipfel seines Badetrikots festhalten, damit er nicht untergeht, solange er sich im Museum aufhält, sondern daß er unter unserer Mithilfe das Schwimmen erlernt, sodaß er sich auch in anderen (Kunst)Gewässern sicherer zu bewegen imstande ist. Noch dazu mit Vergnügen und ohne Angst. Voraussetzung für die effiziente Wechselwirkung der erweiterten Ausbildungsstätten für den Studenten ist selbstverständlich, daß das Museum, an dem er praktizierend lernt, sich selbst als Vermittlungsinstitution begreift. Oder in seiner Konzeption zumindest sporadisch die Möglichkeit dieses Ansatzes zuläßt.

Modellversuche, die seit einem knappen Jahrzehnt an der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum durchgeführt werden, lassen Aufschlüsse über diese integrative Form der Ausbildung zu.19Die von mir geleitete Lehrveranstaltung am Institut für Kunstgeschichte in Graz lief unter dem einzigen an einer österreichischen Universität möglichen Titel für ein derartiges Projekt, nämlich „Museumskunde“, da Didaktik oder Vermittlung bekanntlich im Lehrplan nicht vorgesehen ist. Eine stenogrammartige Auflistung der Erfahrungen betrifft sowohl die Problemfindung, die Schwierigkeiten im Umgang mit den Objekten, den „Anhängselcharakter“ eines solchen Programms im Rahmen der Durchführungsorganisation als auch die Reaktion aufseiten der Rezipienten. Ich beziehe mich im Folgenden weitgehend aus Aktualitätsgründen auf die bisher letzte Ausstellung unter dem Titel „Jedes Ding hat 2 Seiten. Mindestens.“ – „Gegenständliches aus der Kunst des 20. Jahrhunderts“.20Ausstellung und Katalog, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, April/Mai, Graz 1986. Der Zeitraster war durch die Struktur des Veranstaltungsortes, an dem die Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart überwiegender Schwerpunkt der Tätigkeit ist, nahezu vorgegeben. Daß dies für einen Großteil der am Projekt Beteiligten keine Einschränkung darstellte, wurde bei der ersten Sammlung der Themenvorschläge deutlich, da immer wieder das Kunstwerk der Gegenwart, oft in unmittelbarer Konfrontation mit dem lebenden Künstler selbst, mit seiner nach Meinung mancher eigentlich nur von diesem vorzunehmenden Interpretation in den Mittelpunkt der Diskussion rückte. War es zuerst also die Chance, in einem aufgelockerten Seminarbetrieb Selbsterfahrung im Bereich der zeitgenössischen Kunst zu betreiben, wurde erst in einer zweiten Planungsphase das Publikum als Adressat stärker in die Überlegungen miteinbezogen.

Mit dem „Ding“ sollte nicht ein Element der klassischen Kategorie Stilleben erfaßt, sondern auf Wahrnehmungsschwerpunkte des Betrachters ebenso Rücksicht genommen werden wie auf den Umstand, daß gerade im 20. Jahrhundert der Gegenstand ein zentrales Gestaltungsanliegen der Künstler, aus verschiedensten Blickwinkeln heraus, geworden ist. Ein wissenschaftliches Thema also, das in einer Ausstellung augenfällig abzuhandeln war, dessen Resonanz auf Publikumsebene man aber ebenso sicher sein durfte, da „der immer stärker werdende Anteil von Produkten im alltäglichen Realitätsfeld, ihre Oberflächlichkeit ebenso wie ihre Fetischierung zunehmend in ein kritisch fragendes Bewußtsein treten. In Verbindung mit dem Sichtbarwerden der Grenzen zweckorientierten Handelns und dem Hand in Hand gehenden Zuschütten der Kultur durch die Zivilisation erschienen uns der Gegenstand, das Ding, als brisantes Thema.“21Werner Fenz, in: Ausstellungskatalog „Jedes Ding hat 2 Seiten“, op. cit.

Wir glaubten an die Motivierbarkeit des Betrachters aus den genannten Gründen auf der einen Seite, auf der anderen bot sich innerhalb eines einigermaßen eingrenzbaren Themas die Gelegenheit, die künstlerischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts exemplarisch sichtbar zu machen. Um Form und Inhalt der Bilder, Grafiken und Objekte schärfer zu konturieren, suchte das Ausstellungskonzept Ergänzungen und Konfrontationen, Verbreiterungen und Vertiefungen. Dazu diente auch die Strukturierung in einzelne, in sich geschlossene Raumeinheiten, die aber untereinander nicht ohne Querverweise blieben. Die Ausstellung war mit einem Prolog zum „Abschütteln“ alltäglicher Erfahrungswerte konzipiert. Überraschend betrat der Besucher durch Rauschenbergs Emballagen-„Door“ einen Raum, in dem sich die schwebende Zimmereinrichtung eines jungen steirischen Künstlers, aus buntbemalten Bildsäcken hergestellt, unter dem beziehungsreichen Titel „Van Gogh ist ausgegangen“ ausbreitete,22Rauminstallation von Gustav Troger. und in dem eine Großreproduktion von René Magrittes „Ceci n’est pas une pipe“ und das Zitat von Wilhelm Busch „kein Ding sieht so aus, wie es ist“ ästhetische Erlebnisse, Denkmodelle und das In-Frage-Stellen von Realitätserfahrungen signalisierten. Die weiteren Räume handelten, jeweils auf unterschiedlichen Ebenen ausgebreitet, vom Sessel, vom Tisch und von anderen Gebrauchsgegenständen, wobei nicht nur ein möglicher Blickwinkel durch einen anderen ersetzt werden sollte.

Soweit kurz zum Konzept. Eine Beschreibung der Objekte in den einzelnen Gruppierungen sollte eine Anleitung zur Leseart der Bildsprache geben – wobei die Konfrontation als gezieltes Anschauungsmodell eingesetzt wurde –, die Ausstellungsstücke in ihrem zeitlichen Kontext erfassen und darüber hinaus das Material im Sinne des „Stoffes, aus dem die Kunstwerke sind“, der Aufmerksamkeit des Betrachters anheimstellen. Es zeigte sich erwartungsgemäß, daß gerade in der Transkription vom Bild zum Wort, aber auch im Anspruch an die wissenschaftliche Exaktheit die größten Schwierigkeiten auftauchten. Da es Ziel des Seminars war, nicht lehrplanorientierte pädagogische Vermittlung, aber auch nicht ausschließlich fachspezifische Untersuchungen zu betreiben, kam dem Wort neben der inszenierten Kunstwirklichkeit, also der vergleichenden oder ergänzenden Anschauung, größte Bedeutung zu. Dabei erwies sich einmal mehr eine genaue Kenntnis der „Modi“ als ebenso wesentliche Voraussetzung wie die des geistigen Umfeldes. Also nur die Kenntnis des heutigen wissenschaftlichen Standards konnte der Gefahr, die speziellen ästhetischen Erzeugnisse zu „Allerweltsformen“ zu degradieren, aus denen irgendein augenfälliges Merkmal isoliert dem Rezipienten unter die Nase gehalten wurde, begegnen. Am sprachlichen Transfer waren sowohl Chancen einer öffentlichen Wirksamkeit als auch die Verführung durch sie zu beachten. Warnkes „Wissenschaft als Knechtungsakt“ lauerte auch hier als Falle „warenmäßiger Zubereitung“.23M. Warnke, Wissenschaft als Knechtungsakt, op. cit., S. 99.

Ich bin überzeugt, daß wir mit einem Dutzend Mitarbeitern diesen Fußangeln nicht immer entkommen sind und daß der wissenschaftliche Standard eine unterschiedliche Höhenlage hatte. Diese kritische Nachlese ist vor allem auch deshalb angebracht, weil der Ausstellung ein überdurchschnittlicher Erfolg beschieden war, der allzu leicht einige Schwachstellen der Ausführung übertünchen könnte. Besonders wertvoll erscheint mir auch heute noch, daß nicht nur die Schulen und ihre Pädagogen mehrmals die Einlösung eines Desideratums akklamierten – wobei sie eine doppelte bis dreifache Dauer der Ausstellungszeit für wünschenswert hielten, ein Umstand, den der Museumsmann ohne weiteres in seine Strukturüberlegungen mitaufnehmen könnte – sondern, daß eine stark gestiegene Zahl der Einzelbesucher zu registrieren war. Ohne den Schulprogrammen ihren Stellenwert im Museumsbetrieb abzusprechen, bin ich der Überzeugung, daß gerade der nichtorganisierte Museumsbesuch durch den Jugendlichen oder Erwachsenen unsere größte Aufmerksamkeit verdient und daß diese Zielgruppen in der Kunstvermittlung zunehmend alleingelassen werden. Eine bemerkenswerte Schlußfolgerung für die am Projekt Beteiligten bestand neben der Versicherung, jederzeit wieder mitzuarbeiten und über den Abschluß hinaus weitere Themenvorschläge unterbreitet zu haben, darin, daß ein Großteil bisher nicht gewußt habe, daß man mit der Kunstgeschichte auch wirklich etwas „anfangen“ könne.

Ich erwähne das jetzt vor allem im Hinblick darauf, daß bisher vielfach die Meinung vertreten wurde, Kunstvermittlung sei ausschließlich eine eigenständige Disziplin, die aus der Kunstwissenschaft herausgelöst werden müsse und nur durch einen interdisziplinären Ausbildungsgang erreicht werden könne. Im Gedankengang wieder Otto Pacht folgend, der festgestellt hat:„… es ist richtig, daß es nicht unbedingt eine historische Disziplin sein muß, in der die Werke der bildenden Kunst Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung werden können“,24O. Pächt, op. cit., S. 188.Kunstgeschichte müsse aber dennoch zentrale Forschungsdisziplin bleiben, möchte ich in dem mir gesteckten Rahmen der Untersuchungen und Beobachtungen festhalten, daß gerade der Kunsthistoriker seiner Disziplin in keiner Weise untreu wird, wenn er die Anwendung seiner Wissenschaft im Sinn hat, ja, daß er durch die Überzeugung von der Verwertungsmöglichkeit seiner wissenschaftlichen Ergebnisse der Kunst und dem Künstler einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft zu verschaffen vermag. Dient er zwei Herren, ist er hier schon wieder der engagierte, aber dilettierende Vermittler, nur wenn er den Anspruch formuliert, daß er „als Wissenschafter über Kunstwerke gültige Aussagen machen kann, die für die Lebenspraxis eines größeren Publikums von Belang sind“?25Vgl. Anm. 17.

Freilich wird uns eine museumspädagogische Praxis an einen Punkt führen können, an dem wir über die Ausarbeitung des Grundkonzeptes hinaus nicht mehr kompetent sind. Ich meine, daß der Kunsthistoriker als Museumsmann wohl zunehmendes Interesse an kontinuierlichen, an der Forschungslage wie am Rezeptionsbedürfnis orientierten Themenausstellungen bekunden sollte. Daß er die verkrustete Struktur der nicht einmal mehr fachspezifisch zu vertretenden Präsentation ständiger Sammlungen in riesigen Italiener- oder Niederländerflügeln großer Häuser in Richtung einer „Schule des Sehens“ verändern sollte – denn hier manifestiert sich Schubladenwissenschaft in konzentriertester Form. Daß er in die Gestaltung eines neuen Museums unter diesen Gesichtspunkten eingreifen sollte. Ich meine aber, daß es seine Sache nicht mehr sein kann, flämische Fladen, wie sie in Breughels „Bauernhochzeit“ verzehrt werden, speziell für Haushaltungsschulen etwa tatsächlich als pädagogischen Ein- oder Ausstieg dazuzubacken. Die zusätzliche alters- und schichtenspezifische Vermittlung im vorgegebenen Raster strukturierter Erlebnisinhalte steht auf einem anderen Blatt, z.B. auf dem behutsamer Museumspädagogik.

Manuskript zu: Der Kunsthistoriker als Diener zweier Herren ?, in: Kunsthistoriker. Mitteilungen des Österreichischen Kunsthistorikerverbandes,  Wien:. verband Österreichischer Kunsthistoriker, Jg. III (1986), Nr. 3/4,  S. 31–36.
Abbildungen: Archiv Fenz-Kortschak, Kronen Zeitung
Fotos: MARCUS AUER / COLOURSPACE, Jürgen Radspieler
Publikation

References
1 Ich bin mir auch bewußt, daß ich mit dieser sprachlichen Formulierung sehr nahe an Martin Warnkes Analysen populärwissenschaftlicher Texte in „Wissenschaft als Knechtungsakt“ herankomme, ohne allerdings tatsächlich den darin abgehandelten Macht- und Unterdrückungsraster heraufbeschwören zu wollen. vgl. Marint Warnke, Wissenschaft als Knechtungsakt, in: ders., Künstler, Kunsthistoriker, Museen, Luzern u. Frankfurt/M. 1979, S. 99–107.
2 Der Große Brockhaus, Wiesbaden 1955, Bd. 7, S. 210.
3 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim, Wien, Zürich 1978, Bd. 15/16, S. 632.
4 Wilhem Schäfer, Museum und Forschung, in: Museum und Kunst. Beiträge für Alfred Hentzen, Hamburg 1970, S. 197–206, S. 197.
5 W. Schäfer, op. cit., S.197.
6 W. Schäfer, op. cit., S. 199–200.
7 von Einem zit. nach Irene Below, (Hg.), Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, S. 5.
8 Heinz Ladendorf, Das Museum – Geschichte, Aufgaben, Probleme, in: Museologie. Seminarbericht der Deutschen UNESCO-Kommission Nr. 18, Pullach bei München 1973, S. 14–28, S. 22.
9 Irene Below, op. cit., S. 8.
10 Werner Hofmann, Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München 1979, S. 7.
11 Werner  Hofman, op.cit.
12 Otto Pächt, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, in: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften, München 1977, S. 187–300, S. 187, 191.
13 O. Pächt, op. cit., S. 206.
14 Martin Warnke, Museum als Lernort: Das Historische Museum in Frankfurt, in: ders., Künstler, Kunsthistoriker, Museen, op. cit., S. 112–118.
15 O. Pächt, op. cit., S. 187.
16 O. Pächt, op. cit., S. 209.
17 Hans Belting, Das Werk im Kontext, in: Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, S. 186–202, S. 187.
18 I. Below, Probleme der „Werkbetrachtung“ – Lichtwark und die Folgen, in: Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, op. cit., S. 83–135, S. 91.
19 Die von mir geleitete Lehrveranstaltung am Institut für Kunstgeschichte in Graz lief unter dem einzigen an einer österreichischen Universität möglichen Titel für ein derartiges Projekt, nämlich „Museumskunde“, da Didaktik oder Vermittlung bekanntlich im Lehrplan nicht vorgesehen ist.
20 Ausstellung und Katalog, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, April/Mai, Graz 1986.
21 Werner Fenz, in: Ausstellungskatalog „Jedes Ding hat 2 Seiten“, op. cit.
22 Rauminstallation von Gustav Troger.
23 M. Warnke, Wissenschaft als Knechtungsakt, op. cit., S. 99.
24 O. Pächt, op. cit., S. 188.
25 Vgl. Anm. 17.